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Die neue "Altstadt" von Datong

1. August 2010

Neu gebaute Häuser oder ganze Stadtviertel - die aber aussehen, als seien sie historisch: ein Trend in China. Auch im nordchinesischen Datong dominiert mittlerweile die Architektur der Vergangenheit.

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Ein fertig rekonstruierter 'Altbau' im Stil der Ming-Dynastie (Foto: Markus Rimmele / DW)
Ein fertig rekonstruierter "Altbau" im Stil der Ming-DynastieBild: DW/Markus Rimmele

Immer tiefer stößt der gelbe Abrissbagger seinen Metallarm ins Mauerwerk. Eines der letzten Häuser am Südtor verschwindet. Die Gegend sieht aus wie eine Kriegszone. Ruinen und Staub, Totalabriss. Doch ein paar hundert Meter weiter wächst schon das Neue empor. Geschwungene chinesische Dächer schieben sich in den tiefblauen Himmel. Datong reißt seine Innenstadt komplett ab und baut sie im Stil der Ming-Dynastie aus dem frühen 17. Jahrhundert wieder auf. Die Studentin Zhang Feng findet das gut, so wie viele Bewohner der Stadt. "Das gibt dem Tourimus einen Schub. Und gleichzeitig erleben wir selbst die alte Architektur wieder. Zukünftige Generationen werden die imposanten Gebäude mit ihrer Holzkonstruktion bewundern können."

Vom Kohlerevier zum Touristenmekka

Das Südtor in der Stadtmauer, davor ein dem Untergang geweihtes Abbruchhaus (Foto: Markus Rimmele / DW)
Das Südtor in der Stadtmauer, davor ein dem Untergang geweihtes AbbruchhausBild: DW/Markus Rimmele

Datong ist in China bekannt als verschmutztes, gesichtsloses Zentrum der Kohleförderung. Damit soll es nun vorbei sein. Auf der Suche nach einem neuen Antlitz springt die Stadt ein paar Jahrhunderte zurück in ruhmvollere Tage, als sie noch ein wichtiger Handelsplatz auf dem Weg in die Mongolei war: voller Tempel, Pagoden und Adelspaläste.

Sechs Milliarden Euro will der Bürgermeister in den Stadtumbau investieren und so auch Touristen anlocken. Die massive quadratische Stadtmauer ist in Teilen schon wiederhergestellt. Jede Seite ist 1,6 Kilometer lang. Alle Häuser innerhalb der Mauer müssen den Ming-Neubauten weichen. Die Bewohner werden in die Vorstädte umgesiedelt, müssen das Zentrum für immer verlassen. Denn dort entsteht eine Touristenzone aus Souvenirläden, Hotels und angeblichen Ming-Zeit-Sehenswürdigkeiten.

Hunger nach Geschichte

Lee Ho Yin, Denkmalschützer an der Universität Hongkong (Foto: Markus Rimmele / DW)
Lee Ho Yin, Denkmalschützer an der Universität HongkongBild: DW/Markus Rimmele

Eine Rekonstruktionswelle rollt durch China. Datong ist überall. Nachgebaute Altstadtstraßen haben Konjunktur und ziehen Hunderttausende Touristen an. Dieser Hunger nach Geschichte sei eine Reaktion auf Jahrzehnte der Kulturzerstörung, glaubt Lee Ho Yin, Denkmalschützer an der Universität Hongkong.

Die Kulturrevolution am Ende der 1960er Jahre sei dabei längst nicht das Schlimmste gewesen. "Das war meist nur oberflächlich", sagt Lee. "Die Zerstörung durch die Wirtschaftsentwicklung der letzten 30 Jahre jedoch ist total. Alte Stadtviertel werden komplett für Neubebauungen platt gemacht. Das ist unwiederbringlich." So verschwinden auch heute noch Chinas Altstädte im Zeitraffer. Einerseits. Und andererseits werden Pseudo-Altstädte aufgebaut.

Denkmalpflege oder China-Disneyland?

Das Gelände auf dem Gebiet der Altstadt ist freigeräumt, die Häser wurden abgerissen (Foto: Markus Rimmele / DW)
Das Gelände auf dem Gebiet der Altstadt ist freigeräumt, die Häser wurden abgerissenBild: DW/Markus Rimmele

Vom alten glanzvollen Datong ist kaum etwas übrig. In nur 40 Jahren wurde fast alles beseitigt. Die Stadtoberen wollen mit dem Neubauprojekt diesen Prozess nicht umkehren, das Zerstörte nicht wiederherstellen. Stattdessen bauen sie ein imaginäres Datong aus dem 17. Jahrhundert. Nach so langer Zeit kann von Originaltreue nicht die Rede sein. An manchen Stellen kommt gar Beton zum Einsatz. Entsteht hier also eine Art China-Themenpark?

"Das ist alles Fälschung, Rekonstruktion. Das ist nicht gut", sagt Lee Ho Yin. "Aber das ist eine vorübergehende Welle. Das ist ein Zwischenschritt hin zu einem besseren Verständnis von Kulturerbe und Denkmalschutz. Die Menschen werden bald erkennen, dass das falsch ist."

Bauarbeiten an einem 'Altstadthaus' - der Neubau dauert nur drei Monate (Foto: Markus Rimmele / DW)
Bauarbeiten an einem "Altstadthaus"Bild: DW/Markus Rimmele

Immerhin wächst nach Jahrzehnten kommunistischer und ökonomischer Fortschrittsideologie das Bedürfnis nach Vergangenheit und Identität. Viele Bürger interessieren sich wieder für das Alte.

"In meiner Kindheit", erzählt eine ältere Frau aus Datong, "war unsere Stadt sehr schön. In meiner Erinnerung war jedes Gebäude besonders, jeder Ziegel war fein. Und die Leute kümmerten sich um diese Dinge. Diesen Geist muss man wiederbeleben."

Autor: Markus Rimmele
Redaktion: Esther Broders