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Neue Zivilgesellschaft in Syrien

Mona Naggar, Beirut22. Mai 2014

Seit Beginn des Aufstandes gegen Assad hat sich in Syrien eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt. Viele engagieren sich für Bildung, Gesundheit oder in der Konfliktlösung. Aber die Helfer leben gefährlich.

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Solidaritätsdemo in Kafar Nibbil
Eine Solidaritätsdemonstration für Aktivisten in der Kleinstadt Kafar NibbilBild: Dawlati

Immer wieder spricht Mustafa Haid von Herausforderungen. In einem Land im Kriegszustand sind viele Dinge eine Herausforderung: Workshops zu organisieren beispielsweise oder den Kontakt zu Aktivisten zu halten, die jederzeit verhaftet werden können oder fliehen müssen. Der 35-jährige Syrer sitzt in einem Café im Osten Beiruts im Libanon und erklärt die Arbeit seiner Organisation "Dawlati" ("Mein Staat"). Vor etwa zwei Jahren gegründet, hat sie sich dem Aufbau eines neuen Syriens mit gewaltfreien Mitteln verschrieben. Die Organisation arbeitet in verschiedenen Gebieten des Landes, die von der Opposition kontrolliert werden.

"Es geht darum, wie man Konflikte gewaltfrei lösen kann, um digitale Sicherheit der Aktivisten, um Strategien und Taktiken des gewaltfreien Handelns, um Vernetzung, um Übergangsjustiz oder um den Umgang mit radikalen dschihadistischen Gruppen", sagt der Aktivist. Als Beispiel nennt er den letzten Workshop, den "Dawlati" organisiert hat. Es ging um Gerüchte. "Radikalislamische Gruppierungen benutzen Propaganda und streuen falsche Nachrichten, um neue Anhänger zu gewinnen. Wie können Menschen vor Ort dagegensteuern?", erklärt Haid das Thema.

Der Staat kontrollierte alles

Die Organisation "Dawlati", die unter anderem von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung finanziert wird, ist ein Beispiel für das neue zivilgesellschaftliche Engagement in Syrien. Mehr als 40 Jahre lang bestimmte der Staat, welche Vereine oder Verbände existieren dürfen und welche nicht. Gewerkschaften, Berufsverbände, Sport- oder Jugendvereine: alles war staatlich kontrolliert. Erlaubt waren lediglich einige karitative religiöse Gruppen.

Universität Aleppo Protestaktion der syrischen Organisation Dawlati
Eine Protestaktion an der Universität Aleppo - ein Beispiel für gewaltfreien Widerstand in SyrienBild: Dawlati

Im Jahr 2000, zu Beginn der Herrschaft des Präsidenten Baschar al-Assad, blühten für kurze Zeit Debattierklubs auf, die für politische Reformen eintraten. Die führenden Köpfe des "Damaszener Frühlings" wurden bald vom Regime verhaftet und die Klubs verboten. In den folgenden Jahren entstanden unter der Leitung der Ehefrau des Präsidenten, Asma al-Assad, die sogenannten GONGOs (staatlich organisierte Nichtregierungsorganisationen), die Fassade einer Zivilgesellschaft, die nur in von der Regierung vorgegebenen Bahnen agieren durften. Der Aufstand im Frühjahr 2011, der mit friedlichen Demonstrationen für Bürgerrechte und später für den Sturz des Regimes begann, war der Anfang einer neuen syrischen Zivilgesellschaft, die es auch heute noch gibt.

In Städten und Dörfern vor allem im Norden Syriens, die von oppositionellen Kräften kontrolliert werden, übernehmen die Bewohner die Verwaltung und viele Dienstleistungen. Khaula Dunja von der syrischen Hilfsorganisation Najda Now sagt, dass die Menschen alles organisierten, was man zum Leben brauche: "Wasserversorgung, Bildung, Frauenzentren, psychosoziale Betreuung. Bauern tun sich zusammen, um Saatgut zu besorgen oder die Ernte einzufahren. Das alles wurde früher staatlich organisiert."

Syrien EU Sanktionen gegen Asma Assad und Bashar Assad
Die syrische First Lady Asma Assad - unter ihrer Leitung entstanden sogenannte GONGOsBild: dapd

Fragile Übergangslage

Friederike Stolleis von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung spricht von temporären Ersatzstrukturen für staatliche Strukturen. Aber die Grenzen zu zivilgesellschaftlichen Gebilden seien fließend. Viele der Gruppen kümmerten sich inzwischen auch um die Krankenversorgung oder gründeten Schulen. Humanitäre Hilfe laufe auf allen Ebenen ab.

Allerdings wird so ein Engagement immer gefährlicher: Die zunehmende Militarisierung des Konflikts in Syrien, die fortdauernden Auseinandersetzungen zwischen der bewaffneten Opposition und den Truppen des Präsidenten Assad sowie die Ausbreitung radikal-islamistischer Gruppierungen erschweren zunehmend die Arbeit der neu entstandenen zivilgesellschaftlichen Gruppen. Ein Beispiel ist die Stadt Raqqa im Osten des Landes. Nach dem Abzug der syrischen Regierungstruppen im Frühjahr 2013 gab es für kurze Zeit eine beispiellose Gründungswelle von Bürgerinitiativen und kleinen Organisationen: Wiederaufbau von Schulen, Jugendvereine oder Stadtreinigung. Der Einmarsch der radikalislamistischen ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) beendete jäh diese Phase. Jede Initiative wurde lebensgefährlich. Islamisten verhafteten und ermordeten Aktivisten. Viele verließen die Stadt, andere stellten ihre Arbeit ein. Najda Now musste eine Schule in Raqqa schließen, die sie mit Freiwilligen aufgebaut hatte.

Syrien 14.05.2014 - 15.05.1015
Die Stadt Homs ist durch den Krieg stark zerstörtBild: Reuters/Omar Sanadiki

Trotz der schwierigen Situation ist das Engagement vieler Menschen ungebrochen. Seit einem Jahr führt die Friedrich-Ebert-Stiftung das Programm Bada´il ("Alternativen") durch. Zwölf Trainer aus dem Norden Syriens werden in der Türkei fortgebildet. Es geht um gewaltfreien Widerstand, die Vermittlung in Konflikten und wie man Auseinandersetzungen verhindert. Nach jedem Trainingsblock gehen sie in ihre Heimatorte zurück und geben ihr Wissen an interessierte Gruppen weiter.

Training trotz Bomben

Es gehe darum, in Dörfern oder Stadtvierteln Leute zu einem Dialog zu bringen und zu gucken, wie man verhandeln könne, sagt Friederike Stolleis: "Wie können wir in Abwesenheit von staatlichen Strukturen dafür sorgen, dass jeder zu seinem Recht und dass es nicht zum Konflikt kommt?" Stolleis ist immer wieder von der großen Nachfrage und von der Disziplin der Gruppen überrascht.

Nach einem Jahr haben die von der Ebert-Stiftung ausgebildeten Trainer den Angaben zufolge 500 Menschen weitergebildet, ein Drittel davon Frauen. Die Trainings laufen, so Stolleis, unter extremen Bedingungen ab: Kein Strom, kein Wasser, permanente Bombardierung aus der Luft, Checkpoints von islamistischen und anderen Gruppierungen. "Trotzdem kommen diese Leute zusammen und überlegen sich: Was können wir tun? Kann man nicht noch irgendetwas unternehmen, um diesen Strudel aufzuhalten und zu verhindern, dass die Gesellschaft auseinanderbricht?"