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Psychologie des Zorns

Kersten Knipp21. September 2012

In vielen Ländern der islamischen Welt protestieren Demonstranten weiterhin gegen den Film "Die Unschuld der Muslime". Doch geht es wirklich um Religion? Arabische Intellektuelle stellen ganz andere Diagnosen.

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Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft in Tunis, 14.9. 2012 (Foto: REUTERS)
Bild: Reuters

Ein Aufschrei schallt durch die islamische Welt. Ein Schrei des Zorns und der Empörung. Ihr Prophet ist beleidigt worden - davon sind viele Muslime überzeugt, und das können und wollen sie nicht hinnehmen. Doch geht es wirklich um die Religion, oder genauer: ausschließlich um Religion? Die arabische Tageszeitung "Al Hayat" ist skeptisch. In einem Kommentar deutet sie die Proteste als Spätfolge von Jahrzehnten diktatorischer Herrschaft. Lange Zeit, schreibt sie, hätten viele Bürger in der arabischen Welt unter Unterdrückung, Isolierung und Perspektivlosigkeit gelitten.

Der aufgestaute Unmut entlade sich jetzt und habe dafür einen kollektiven Vorwand gefunden. "Was derzeit passiert", schreibt "Al Hayat", "ist weit davon entfernt, religiöse Bedeutung zu haben. Sicher hing die anfängliche Dynamik mit der Religion zusammen. Aber die Reaktion war kein Ausdruck religiösen Glaubens, sondern einer komplexen historischen, politischen und gesellschaftlichen Gemengelage."

"Werden Symbole angekratzt, kommt es zur Explosion"

Lang aufgestauter Unmut, der nur nach einem Ventil suchte - so verstanden, sind die Demonstrationen und die einhergehende Gewalt nur ein verzerrter Ausdruck eines aufgestauten Leidens an politischen und gesellschaftlichen Missständen. Derzeit seien die Gesellschaften in der arabischen und islamischen Welt sehr empfindlich und reizbar, erklärt der syrische Philosoph Sadik Al-Azm im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Werden in dieser Situation Symbole angekratzt, kommt es zu heftigen Reaktionen, ja sogar zu einer Explosion. Doch diese Aktionen sind nicht geplant. Sie gehen von einfachen Leuten aus."

Ägyptische Polizisten schützen die amerikanische Botschaft in Kairo, 13.9. 2012 (Foto: Reuters)
Der Staat und seine Instanzen - vielleicht der eigentliche Adressat der WutBild: Reuters

Vor allem aber, erklärt er, hätten die Demonstrationen insgeheim ein ganz anderes Ziel im Blick als die westlichen Staaten: "Letztlich richten sich die Demonstranten gegen ihre eigenen Regierungen."

Es ist ein diffuser Zorn, der sich in keiner politischen Sprache äußert und auch nicht den Dialog fordert. Das liege in der Natur der Sache, erklärt der an der "American University of Cairo" lehrende Politikwissenschaftler Gamal Soltan. Denn der Protest werde vor allem von einer bestimmten Gruppe getragen: "Es handelt sich überwiegend um Angehörige der Unterschichten. Man muss aber sagen, dass die Versuche, diese Leute aufzuwiegeln, in quantitativer Hinsicht nicht sonderlich erfolgreich waren. In Kairo und den anderen Städten waren wirklich sehr wenige Leute auf den Straßen. Aber es ist natürlich ein moralisch sehr sensibles Thema, und dafür gehen die Leute auf die Straße."

Spontane Empörung? Sorgsam gelenkt?

Und doch ist der Protest nicht unschuldig. Längst haben verschiedene Gruppen erkannt, wie gut er sich für ihre Anliegen nutzen lässt. In Ägypten etwa sehen sich die Salafisten trotz ihrer Erfolge bei den Parlamentswahlen in den Hintergrund gedrängt. Im politischen Entscheidungsprozess spielen sie keine große Rolle. Um so mehr liege ihnen daran, anhand der Proteste die Macht über die Straße und damit größeren politischen Einfluss zu erlangen, erklärt Soltan. Der Protest sei zwar einerseits spontan. Andererseits sei diese Spontanität längst instrumentalisiert worden: "Es gibt salafistische Gruppierungen, die die neue Freiheit genießen. Vorher waren sie gezwungen, sich ruhig zu verhalten. Jetzt können sie in offene Konkurrenz zu den Muslimbrüdern, ja sogar zu der Regierung treten."

Demontranten mit einem großen Porträt Osam Bin Ladens in Kairo, 14.9. 2012
Totgesagte leben länger: Porträt von Osama Bin Laden in KairoBild: Matthias Sailer

Auch in Tunesien wird spontane Empörung womöglich sorgsam gelenkt. Die in der Regierungskoalition vertretene Nahda-Partei versuche das Land systematisch zu islamisieren, erklärt die Bloggerin Lina Ben Mhenni im Gespräch mit der Deutschen Welle. Die Partei wolle davon ablenken, dass sie der wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht Herr werde. Ben Mhenni beobachtet, dass die Nahda-Partei Beziehungen zu den Salafisten pflegt. "Und wenn die Nahda-Partei Probleme hat oder die Bevölkerung nicht zu überzeugen vermag, bedient sie sich der Salafisten, um die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abzulenken. Dann treten die Salafisten auf den Plan und werden gewalttätig, um die wahren Probleme zu verbergen."

Nachlässig geschützte Botschaften

Das sieht die derzeit am Käthe-Hamburger-Kolleg der Universität Bonn forschende Tunesierin Raja Sakrani ähnlich. Inwieweit die Nahda-Partei auch Beziehungen zu gewalttätigen salafistischen Gruppen habe, könne sie nicht sagen, erklärt die Juristin im DW-Gespräch. Während der jüngsten Proteste gegen den Mohammed-Film sei ihr im Zusammenhang mit dem Sturm auf die amerikanische Botschaft in Tunis eines aber aufgefallen: "Normalerweise ist die Botschaft gut geschützt. Man kommt nicht so leicht auf das Gelände. Darum wirft die Tatsache, dass die Angreifer das Gelände so leicht betreten konnten, zumindest Fragen hinsichtlich der vom Innenministerium veranlassten Sicherheitsmaßnahmen auf."

Junge Demonstranten in Tunis, 12.9. 2012. (Foto: Reuters)
Zornige junge Männer in TunisBild: Reuters

Der Zorn der Straße, so die übereinstimmende Einschätzung politischer Beobachter, ist teils spontan, teils wird er gelenkt. Vor allem aber sehen die Analysten ihn als Hinweis darauf, dass die politischen und sozialen Probleme in vielen Ländern der arabischen Welt auch nach den Revolutionen noch nicht angemessen artikuliert werden.