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"Die Regierung hat bei Fährunglück versagt"

Jason Strother16. Juli 2014

In Südkorea stehen die Familien der Schüler, die bei dem Unglück der Fähre "Sewol" ums Leben kamen, noch immer unter Schock. Sie fordern bessere Sicherheitsstandards, so ihr Sprecher Kwon Oh-hyun.

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Familienangehörige der Opfer des Fährunglücks am 16. April (Foto: picture alliance/AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo

Am 16. April sank die südkoreanische Fähre "Sewol" mit 476 Passagieren an Bord vor der Südküste des Landes. Nur 172 Menschen überlebten. Die Mehrheit der Passagiere, die ums Leben kamen, waren Schüler der Dawon High School aus der Stadt Ansan im Norden des Landes, die auf einem Ausflug waren. Fünfzehn überlebende Crew-Mitglieder müssen sich inzwischen vor Gericht verantworten, darunter der Kapitän und drei andere, die wegen "fahrlässiger Tötung" in einem besonders schweren Fall angeklagt sind. Ihnen droht die Todesstrafe.

Kwon Oh-hyun, der bei dem Unglück seinen jüngeren Bruder verloren hat, ist Sprecher eines Interessenverbands der Opferfamilien. Die Tragödie habe in Ansan traumatisierte Familienangehörige und Schulkameraden hinterlassen, so der 27-Jährige. Im DW-Interview erhebt er schwere Vorwürfe gegenüber der Regierung und fordert bessere Sicherheitsstandards.

DW: Wie geht es heute, drei Monate nach der Tragödie, den Menschen in Ansan?

Kwon Oh-hyun: Viele Eltern sahen sich nach dem Tod ihrer Kinder gezwungen, ihre Jobs aufzugeben. Manche versuchten, in die Arbeitswelt zurückzukehren, konnten ihr aber nicht mehr standhalten und bleiben deshalb jetzt zuhause. Ungefähr fünfzig Personen aus den Familien der Opfer haben sich zu einem Verband zusammengeschlossen.

Kwon Oh-Hyun, Sprecher der Opferfamilien (Foto: DW/J.Strother)
Kwon Oh-hyun: "Die Regierung versucht, die gesamte Schuld auf die Küstenwache abzuwälzen."Bild: DW/J. Stroher

Wie werden diese Familien unterstützt?

Die Regierung gibt uns einen Zuschuss zum Lebensunterhalt und ermöglicht psychologische Betreuung. Aber diese Art von Hilfe ist begrenzt: das Geld erhielten wir nur zwei Monate, die Trauma-Bewältigungstherapie nur ein Jahr. Heißt das, es wird von uns erwartet, dass wir uns in einem Jahr besser fühlen sollen?

Was können Sie über Ihren Bruder erzählen?

Sein Name ist Kwon Oh-chun, er war 16 Jahre alt. 15 Jahre lang haben wir ein Zimmer - sogar ein Bett - geteilt. Unmittelbar nach seinem Tod war es für mich sehr schwer, in diesem Raum zu schlafen. Eine Woche lang habe ich deshalb in meinem Auto übernachtet. Ich konnte nicht ertragen, in dieses Zimmer zurück zu gehen.

Er war ein unbekümmerter, lockerer Typ. Er liebte Sport, vor allem Taekwondo und Boxen. Unsere Eltern fanden es nicht so gut, dass er sich in der Schule nur auf den Sport konzentrierte. Aber seit unser Vater vor einem Jahr gestorben ist, habe ich eine Art Führungsrolle für ihn übernommen. Ich habe unsere Mutter überredet, ihm zu erlauben, dass er sich auf ein Studium zum Sportlehrer vorbereitet. Eine Woche danach geschah das Unglück.

Was denken Sie über die Gerichtsverhandlungen, laufen sie transparent und fair ab?

Zur Zeit werden Beweismittel vorgelegt; es gibt inzwischen mehr als 2000 Beweisstücke. Obwohl der Kapitän und Besatzungsmitglieder der "Sewol" wegen fahrlässiger Tötung angeklagt sind, gibt es anscheinend immer noch nicht genug Indizien dafür, dass die Crew vorhatte, die Passagiere zu töten. Ich denke die Staatsanwälte machen einen guten Job. Es tauchen immer noch neue Beweisstücke auf, wie zum Beispiel die Schiffskamera oder Mobilfunkgeräte einiger Passagiere. Wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, werden wir sehen, ob diese Anklage aufrecht erhalten werden kann.

Aber inzwischen fühlen sich einige von uns Familienmitglieder ein wenig ausgeschlossen aus dem Prozess. Es scheint, als würde das Gericht zu weit gehen damit, die Angeklagten zu schützen. Einige dieser Angeklagten sind schon während der Gerichtsverhandlung eingeschlafen. Ich glaube, einige von uns würden sie sehr gerne einfach zusammenschlagen.

Wer ist aus Ihrer Sicht verantwortlich für das Unglück?

Es ist schwer, einem einzelnen Menschen oder einer einzelnen Instanz die Schuld für diese Katastrophe zu geben. Ich denke, dass fundamentale Fehler im Regierungssystem liegen. Die Küstenwache war nicht gut genug ausgebildet für eine solche Notsituation. Auch die südkoreanische Chonghaejin Marine Company hat die Besatzungsmanschaft ihrer Passagierfähre nicht darauf vorbereitet, in Unglücksfällen angemessen zu reagieren. Überall in diesem Land fehlt es an Sicherheitsstandards.

Familienangehörige der Opfer des Fährunglücks am 16. April (Foto: Reuters)
Kwon glaubt, dass viele Südkoreaner seit dem Unglück stärker auf ihre Sicherheit achtenBild: Reuters

Präsidentin Park Geun-hye will die Küstenwache auflösen und durch eine neue Notfallschutz-Abteilung ersetzen. Was halten Sie von dieser Entscheidung?

Die Regierung versucht, die gesamte Schuld auf die Küstenwache abzuwälzen. Die Familien, deren Kinder noch nicht gefunden wurden, sind darüber sehr aufgebracht. Sie fürchten, dass diese Entscheidung die Taucher der Küstenwache, die immer noch nach den Leichen suchen, demoralisieren wird.

Bald sollen auch einige Überlebende aussagen. Wie stehen Sie dazu?

Einige der Überlebenden sind noch nicht wieder in guter emotionaler Verfassung. Sie dürfen deshalb ihre Aussagen hier in Ansan aufnehmen. Ihre Statements werden dann nach Gwangju geschickt, wo die Verfahren stattfinden. Es ist schwer, vorherzusagen, was sie sagen werden und wie sich ihre Hinweise auf den Fall auswirken.

Die Prozess-Berichterstattung der Medien ist vom Gericht eingeschränkt worden. Erhalten Sie aus Ihrer Sicht genügend Informationen über den Fortgang des Verfahrens?

Wir haben 105 Zulassungstickets für die Verfahren erhalten. Wir wechseln uns ab. Wer dabei ist, schreibt mit und informiert später die anderen.

Haben Sie seit der "Sewol"-Tragödie positive Veränderungen in der Gesellschaft wahrgenommen?

Was ich an positiven Zeichen sehe ist, dass die Leute stärker auf ihre persönliche Sicherheit achten. Aber ich fürchte, dass die Regierung die Bevölkerung nicht dazu erziehen wird, sich selber besser zu schützen. Seoul hätte längst bessere Sicherheitsstandards einführen sollen. Dieser Unfall hätte nicht geschehen müssen.