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Die Rosinen der Zeit

Stephan Hille4. Oktober 2005

Die Wege der russischen Aufarbeitung von Geschichte sind unergründlich und aus nichtrussischer Perspektive oft absurd. Wahrscheinlich ist es aber der einzige Möglichkeit die Gesellschaft zu kitten.

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In dem Bemühen an die Tradition und Geschichte des Zarenreichs anzuknüpfen sind am Montag die sterblichen Überreste des Oberkommandierenden der Weißen Truppen im russischen Bürgerkrieg, General Anton Denikin, in Moskau beigesetzt worden. Vor 85 Jahren war Denikin nach seiner Niederlage gegen die Roten Truppen Trotzkis ins Exil geflohen. Nach der Umbettung des letzten Zaren vor sieben Jahren ist dies ein weiterer Versuch, einen Schlussstrich unter die turbulente Geschichte Russlands zu setzen. Doch Russland tut sich mit der eigenen Vergangenheit noch immer schwer.

Lenin im Glassarg vergessen?

Für Nichtrussen mag es absurd erscheinen: Auch 14 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion liegt der Leichnam ihres Begründers, Wladimir Iljitsch Lenin, noch immer wie ein bewachter Gral im Glassarkophag im Mausoleum auf dem Roten Platz. Oder hat man ihn dort einfach vergessen?

Stephan Hille

Nein, hat man nicht. Nur weiß das offizielle Russland bis heute nicht wohin mit Lenin und wohin mit 70 Jahren Sowjetdiktatur. Das alte und neue Staatswappen, der Doppeladler, scheint genau diese Zerrissenheit der Russen ob ihrer Geschichte auszudrücken. Präsident Putin gab den Russen die zaristische weiß-blau-rote Trikolore zurück, und gleichzeitig setzte er die alte Stalinhymne mit neuem Text als nationale Erkennungsmelodie wieder ein. Dass ausgerechnet zu den Klängen dieser Sowjethymne einer ihrer erbittertesten Gegner, General Denikin, beigesetzt wurde, markiert einmal mehr die Absurdität des russischen Umgangs mit der Geschichte.

Wie das Ei aus dem Huhn

Für das - vielleicht typisch deutsche - Wort "Vergangenheitsbewältigung" gibt es im Russischen kein Äquivalent. Es hat mit Ausnahme einer kurzen Phase Ende der Perestrojka keinerlei Versuche gegeben, die sowjetische Geschichte und ihre düsteren Kapitel wie den GuLAG, der Deportation ganzer Völker und alle anderen Repressionen aufzuarbeiten. Die Erklärung dafür scheint simpel: Normalerweise brechen Imperien krachend auseinander, doch der Zusammenbruch der Sowjetunion war so sanft, dass einfach Russland und ein paar andere Republiken wie ein Ei aus dem Huhn flutschten. Man rieb sich erstaunt die Augen und schon schien alles vorbei. Anders als nach der Niederlage des Dritten Reiches gab es im postsowjetischen Russland weder Sieger noch Besiegte. Wer konnte also überhaupt über wen und über wessen Geschichte richten? Zumal in einer Zeit, wo der Kampf um das alltägliche Überleben und die Wurst im Magen wichtiger und entscheidender war als die Frage, wer wann wie den Karren Russland richtig in den Dreck gesetzt hat.

Inzwischen scheint es in Russland ein unausgesprochener Konsens zu sein, 70 Jahre Kommunismus einfach auszublenden. Was schlecht war, wird vergessen oder besser verschwiegen. Die guten Erinnerungen, wie zum Beispiel Gagarins Flug ins Weltall, hat man dankbar ins Familienalbum eingeklebt und sagt sich: So schlecht kann`s doch nicht gewesen sein.

Und so picken sich die Russen die schönsten Rosinen aus der Zaren- und der Sowjetzeit heraus, um es im heutigen Russland so gemütlich wie möglich zu machen. Vielleicht ist dies tatsächlich der einzige Weg, die zerrissene Gesellschaft zu kitten, zumindest scheint es der bequemste Weg zu sein. Und wen stört es denn wirklich, wenn der olle Lenin noch einige Jahre wie bei Madame Tussaud auf dem Roten Platz liegt?