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Suche nach dem perfekten Holz

John Laurenson (glh)3. Mai 2013

Steckt in diesem Baum eine Geige? Im Juragebirge zwischen Frankreich und der Schweiz brauchen manche für die Antwort nur einen kurzen Blick. Auch Antonio Stradivaris berühmte Geigen kommen hierher.

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Mann vor Bäumen
Schweiz Jeanmichel CaptBild: Anne-Lise Vullioud

Lorenzo Pellegrini schüttelt den Kopf und geht weiter, seine Knie versinken tief im Schnee. Mit diesem Baum wird er keine Zeit verlieren. Zu viele Äste. Das bedeutet, dass das Holz später zu viele Noppen haben wird. Noppen ruinieren den Hall. Pellegrini ist ein "Bäume-Aussortierer". Unter Zehntausenden Fichten findet er die perfekte. Er findet Stradivari-Bäume.

"Lentement, lentement, lentement", sagt er. "Langsam, langsam, langsam". So sollten Bäume, aus denen Geigen gemacht werden, wachsen. "Hier oben in den Bergen wachsen die Bäume so langsam, dass sie manchmal sogar komplett damit aufhören. In der Zeit sammeln sie dann ihre Kraft. Hier gibt es Bäume, die tausend Jahre alt sind", seine blauen Augen weiten sich vor Bewunderung und Staunen. "Können sie sich das vorstellen!?"

Pelligrini arbeitet im Wald, seitdem er neun ist. Aufgewachsen ist er in den Bergen der Abruzzen, weiter im Süden Italiens. Mit seiner Familie ging er jedes Jahr tief in die Wälder, sie wanderten stundenlang. Weit weg vom nächsten Dorf bauten sie sich dann eine kleine Hütte, in der sie für acht Monate lebten, Bäume fällten, Stämme zerhackten. "Wenn etwas von meinem Essen übrig blieb, habe ich es den Wölfen gegeben", sagt er.

Der singende Wald

Mit 30 Jahren entdeckte er den Risoux-Wald in den Schweizer Jurabergen und wollte nie wieder weg. Das ist der Ort, von dem Antonio Stradivari sein Holz bezog, um die besten Geigen zu bauen, die es jemals gab. Dank Pelligrini und ein paar seiner Kollegen gibt es hier auch heute noch eines der besten "Klanghölzer" weltweit.

Heute ist Pelligrini 83 Jahre alt. Das hält ihn aber nicht davon ab, weiter wie ein Eichhörnchen auf die Bäume zu klettern. Er hütet den Wald, als wenn er sein Garten wäre. Nur ist sein Unkraut ein bisschen größer: Er sortiert Buchen aus, die seine wertvollen Fichten unterdrücken könnten. "Damit die Bäume langsam und gleichmäßig wachsen, muss man sie schön dicht beieinander wachsen lassen, so wie die Haare auf dem Kopf", sagt er. "Und sie sollten nicht zu viel Wasser bekommen. Das Innere des Baumes sollte trocken bleiben. So entsteht das beste Holz. Stabil und mit gewaltigem Klang."

zwei große Fichten
Aus diesen Bäumen im Risoux-Wald wird das Klangholz produziertBild: Anne-Lise Vullioud

Gärtnern für das 24. Jahrhundert

Pelligrinis "Gärtnerarbeit" kommt allerdings Menschen zugute, die erst in mehreren Hundert Jahren geboren werden. Damit es auch im 24. Jahrhundert noch wohlklingendes Fichtenholz gibt.

Sobald er den perfekten Baum gefunden hat, muss er auf den richtigen Tag warten, um ihn zu fällen. Dieser Tag ist meist gegen Ende Herbst, wenn die Flüssigkeit im Baum in den Boden gesunken ist und wenn der Mond tief am Horizont mit der größten Entfernung zur Erde steht. Denn offenbar zieht das magnetische Feld des Mondes nicht nur am Meereswasser und sorgt so für Ebbe und Flut, es zieht auch am Saft im Baum. An diesem Tag ist der Baum so trocken, wie er nur sein kann. Dann organisieren Pelligrini und die anderen Förster eine Zeremonie. Meistens hat der jüngste unter den Förstern die Ehre, den Baum zu fällen.

Geschichte der Welt in einem Stück Holz

Jean-Michel Capt ist auf dem Weg zu Le Brassus, einem kleinen Berg in der Nähe des Waldes, wo viele der besten Uhrmacher der Schweiz leben und arbeiten. Er zeigt auf einen von Wolken umwobenen Gipfel. "Wenn man den Gipfel sehen kann, wird es regnen, so sagt man", erzählt er. "Und wenn du ihn nicht sehen kannst, dann regnet es schon."

Capt ist Handwerker und Erfinder. Er benutzt das Klangholz, das Pelligrini findet, um Gitarren zu bauen. In seiner Werkstatt präsentiert er stolz ein schmales Stück Holz. Es stammt von einem Baum, der mindestens 350 Jahre alt war. Die Faserung, die Linien sind komplett gerade und liegen eng beieinander. Legt man den Finger auf eine der Linien, kann man der Fantasie freien Lauf lassen: Das war vielleicht das Jahr, in dem der erste Weltkrieg begann. Bewegt man den Finger ein bisschen, ist man vielleicht in dem Jahr, in dem Ludwig XVI. sein Schloss in Versailles bauen ließ. Dieses kleine Stück Holz bringt einen zurück bis zu den Tagen unserer Vorfahren.

Jean-Michel Capt mit Gitarre
Jean-Michel Capt baut Gitarren aus dem KlangholzBild: Anne-Lise Vullioud

Das Holz verwandelt Töne

Um die akustischen Qualitäten des Holzes zu demonstrieren, kramt Capt jetzt eine kleine Spieluhr raus. Er zieht sie auf, sie beginnt zu klimpern. Er stellt die klimpernde Spieluhr auf das Stück Holz und auf einmal wird der ganze Raum vom Klang erfüllt.

Später laufen wir durch das Dorf, vorbei an Schulkindern, die auf dem Weg zum Schlittenfahren sind. Wir gehen zu einem der zahlreichen Musiker, die hier leben. Ein knisterndes Kaminfeuer erfüllt den Raum mit Licht und Wärme, daneben steht ein großer Tisch aus Fichtenholz. David Guignard holt sein Cello raus und beginnt, ein Stück von Bach zu spielen.

"Mein Vater war Aufseher im Wald und mein Großvater hat uns eine Hütte im Wald gebaut", erinnert er sich. "Die schönsten Momente meiner Kindheit waren im Wald. Ich war glücklich, an den Füßen der Bäume zu leben." Guignards Musiklehrer hat ihm beigebracht, dass Holz niemals wirklich tot ist. Es reagiert auf Veränderungen der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, es entwickelt sich immer weiter. Ich lausche dem knisternden Feuer und den Cello-Saiten, die das Holz zum Singen bringen. In diesem Moment kann ich nicht glauben, dass ich jemals wieder auf diese Art und Weise Musik hören werde. Wenn man hier ist, wenn man einem Instrument wie diesem zuhört, dann sieht man auch den Schnee, den Wind und den Kuckuck, der sich auf einen Ast setzte, und man verfolgt mit den Augen die Bienen, die einst durch den Geigenbaum schwirrten.