1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Slowakei vor Schicksalswahlen

12. September 2002

- Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft des Landes

https://p.dw.com/p/2dym

Köln, 12.9.2002, CTK, PRAGER ZEITUNG

CTK, 12.9.2002, tschech.

Die bevorstehenden Parlamentswahlen in der Slowakei (20.-21. September) sind von entscheidender Bedeutung für die künftige Ausrichtung des Landes. Diese Wahl entscheidet darüber, ob die Slowakei im November auf dem Prager NATO-Gipfel zum Allianz-Beitritt und Ende des Jahres auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen zum EU-Beitritt eingeladen wird. Auf dem Weg der Slowakei in die euroatlantischen Strukturen könnte es noch ein Hindernis geben, nämlich eine eventuelle Rückkehr des früheren Ministerpräsidenten Vladimir Meciar, was schon seit Längerem auch westliche Politiker mehr oder weniger deutlich machen. (...)

Bereits vor einem Jahr hat EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen angedeutet, dass ein eventueller Wahlsieg von Meciar zum Problem für die Aufnahme der Slowakei in die EU wäre. (...) Eine ähnliche Warnung äußerte auch der britische Außenminister Jack Straw. (...)

Die bevorstehenden slowakischen "Parlamentswahlen werden vielleicht die wichtigsten in der bisherigen Geschichte der Slowakei sein...Die ganze Welt wird auf sie ihr Augenmerk richten", bekräftigte schon im März diesen Jahres NATO-Generalsekretär George Robertson. US-Präsident George Bush betonte bei einem Treffen mit dem slowakischen Staatspräsidenten Rudolf Schuster in Washington im Juni, es sei notwendig, dass nach den Wahlen eine "vertrauenswürdige Regierung" zustande kommt. (...) (ykk)

PRAGER ZEITUNG, 11.9.2002, deutsch, Birgit Lettenbauer

Am 20. und 21. September wählen die Slowaken ein neues Parlament und der Ausgang ist völlig offen. Sicher scheint nur eines: die gegenwärtige Regierung wird ihre Koffer packen und einer anderen Koalition Platz machen müssen. Denn der derzeitige Ministerpräsident Mikulas Dzurinda rangiert mit seiner Partei bei gerade mal 10,5 Prozent. Auf der Wunschliste des Westens steht er zwar ganz oben, doch wird ihm das kaum helfen, seine Landsleute hinter sich zu scharen.

Dabei hat die von Dzurinda geführte Regenbogenkoalition durchaus Erfolge zu verbuchen. Auf der Habenseite stehen Steuersenkungen, die Erhöhung der Renten und erste Resultate in der Bekämpfung der Kriminalität. Alles Dinge, um die sich die vorhergehende Regierung überhaupt nicht kümmerte. Zudem führte er sein Land auf die internationale Bühne zurück.

Heute gilt die Slowakei als einer der ersten Kandidaten für die geplante NATO-Erweiterung im November; in den Verhandlungen mit der EU hat sie gar mehr Kapitel abgeschlossen als Nachbar Tschechien.

Getrübt wird die Bilanz durch unerfüllte Wahlversprechen, die eher im Reich der Utopie zu Hause waren. So gelang es bei weitem nicht, Löhne und Gehälter um das Doppelte zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit erheblich zu senken. Sie liegt heute bei 17,6 Prozent - der höchste Wert unter den EU-Kandidaten. Zudem haftet Dzurinda das Image des soliden Staatsmannes an, dem jegliches Charisma fehlt.

Ganz anders die beiden Männer, die seit Monaten in der Wählergunst der Slowaken vorne liegen. Lange Zeit an der Spitze der Umfragen lag Ex-Premier Vladimir Meciar. Der selbsternannte Volkstribun, der sich in den 90er Jahren vor allem um den Ausbau seiner eigenen Machtposition kümmerte, konnte sich in den vergangenen vier Jahren als Opfer stilisieren. Wurde er doch 1998 - trotz seines Wahlsieges - von einer breiten Anti-Meciar-Koalition aus allen Positionen gedrängt. Dies jedoch mit guten Gründen: als despotischer Regierungschef trat er die Verfassung mit Füßen, Polizei und Geheimdienst baute er zu seinen eigenen Machtinstrumenten aus und die Korruption stand in voller Blüte. Als Meciar nach dem Ende der Amtszeit von Präsident Kovac auch noch die Vollmachten des Staatsoberhauptes an sich riss, war jedwede demokratische Kontrolle zur Farce verkommen. Die pro-europäischen Töne, die er heute anschlägt und ihn als geläutert zeigen sollen, erscheinen im Lichte seines weiterhin polternden Auftretens als bloßes Lippenbekenntnis.

Der zweite Favorit auf den Wahlsieg ist Robert Fico, der Ende 1999 die linke Regierungspartei verließ und die Partei Smer (Richtung) gründete. Der 36-Jährige versteht es meisterhaft, seine Botschaften in seinen populistisch-diffusen Charme zu packen. Vom Image ihres Chefs lebt die gesamte Partei, die einen kometenhaften Aufstieg zu verzeichnen hatte. Wohin allerdings der von Fico proklamierte "dritte Weg" führen soll, lässt sich aus den wohlklingenden Floskeln nicht vermuten. (...) (ykk)

PRAGER ZEITUNG, 11.9.2002, deutsch

Die Parlamentswahlen in der Slowakei sind völlig offen. Drei Szenarien malen die slowakischen Medien an die Wand. Der "abgeschriebene Ex-Premier Meciar", schreckt zwar noch im Westen Politiker aus dem Schlaf, für viele Slowaken hat er aber jedes Drohpotential verloren. Robert Fico, ein junger Verkünder "des dritten Weges" mit linker Biographie, ist ebenfalls hoch im Kurs. Oder aber eine mögliche Koalition kleiner, untereinander zerstrittener Parteien wird in Zukunft den Ton angeben.

Hinzu kommen mehrere Unbekannte. So gibt der einstige Gefolgsmann Meciars und erfolgreiche Parteigründer Ivan Gasparovic große Rätsel auf. Und niemand möchte Prognosen abgeben, wie die astreinen Kommunisten unter Führung des Schwiegersohns von Vasil Bilak abschneiden werden. "Meciar ist Vergangenheit, dafür gibt es neue Gefahren", schreibt das Wochenblatt "Domino forum."

Bei einer derart verworrenen Situation resignieren selbst hartgesottene Analysten. "Das kommt einer Lotterie gleich", meint Pavel Haulik von der Meinungsforschungsagentur MVK. Ein anderer Experte vergleicht das mit dem Wahrsagen aus der berühmten Kristallkugel. Erschwerend kommt hinzu, dass seit dem 5. September keine Umfrageergebnisse mehr veröffentlicht werden dürfen. (...)

Allerdings haben die vorangegangenen Umfragen gezeigt, dass Ende August die Partei Smer von Robert Fico der Meciar-Partei HZDS die Führungsrolle erfolgreich streitig macht. Den Erhebungen zufolge würden noch vier kleinere Parteien mit deutlich prowestlicher Ausrichtung ins Parlament einrücken. Ob Gasparovic (HZD), die Nationalisten (SNS) und die Kommunisten (KSS) die Fünf-Prozent-Hürde nehmen werden, ist ungewiss.

Die Meciar-Partei (HZDS) verliert vor allem seit der Gründung von Gasparovics HZD im Juli dieses Jahres. Der Politologe Grigorij Meseznikov glaubt an einen anhaltenden Trend, den Meciar nicht mehr umkehren kann. "Die Partei wird unter 20 Prozent ankommen, denn ihre Chancen, an der Regierungsbildung teilzunehmen, tendieren gegen Null", unterstrich er gegenüber CTK. Dem stimmt auch der Politologe Miroslav Kusy zu. "Meciars Partei wird in den Wahlen deutlich unter 20 Prozent ankommen." Der Umfrageexperte Haulik dagegen warnt vor den unentschlossenen Wählern. Viele hatten zwar Meciar den Rücken zugewandt, seien aber irgendwo im "luftleeren Raum" hängen geblieben.

Nach den Wahlen werden wohl die konservativen Parteien die wichtigsten Entscheidungen fällen. Denn Fico kommt mit seiner Partei (Smer) nur auf die Hälfte der Stimmen, die die kleinen Rechtsparteien laut Umfragen einspielen. Fico könnte allerdings Unterstützung finden bei Gasparovic (HZD), vorausgesetzt dass der ins Parlament einzieht.

Spekulationen über die Bildung einer Minderheitsregierung finden wenig Zustimmung. Das tschechische Modell Zeman - Klaus wäre unter slowakischen Bedingungen undenkbar, urteilen viele. Zumal der geplante Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union eine starke Regierung voraussetzen. Auch Präsident Rudolf Schuster hat deutlich gemacht, dass er jenen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen wird, der die größten Chancen auf ein Mehrheitskabinett hat.

Robert Fico macht sich große Hoffnungen auf das Amt des Premiers. Von den Umfragen hält er nicht viel. (...) Er rechnet damit, dass die Ergebnisse für eine gehörige Überraschung sorgen werden.

Vieles wird auch von der Wahlbeteiligung abhängen. Nach Erhebungen wollen zwischen 60 und 84 Prozent der etwa vier Millionen Wahlberechtigten an die Urne gehen. Einige Beobachter schließen - ähnlich wie in Tschechien - eine schlechte Wahlbeteiligung nicht aus. Das könnte wiederum Meciar stärken. Denn dessen Anhänger sind bekannt für ihre Disziplin, mit der sie regelmäßig für ihr Idol stimmen. (ykk)

PRAGER ZEITUNG, 11.9.2002, deutsch

Acht slowakische Parteien haben gute Chancen, im politischen Geschäft mitzumischen.

Wenn am 21. September die slowakischen Wahllokale schließen, beginnt es richtig spannend zu werden. Denn neben dem völlig offenen Wahlausgang gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wer mit wem in einer Koalition zusammengeht. Anderthalb Wochen vor der Wahl liefern sich die Parteien ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins. Acht haben derzeit gute Chancen, die Fünfprozenthürde zu überspringen und einen Platz im 150-köpfigen Nationalrat, dem slowakischen Parlament, zu bekommen. Wir stellen Ihnen diese Parteien im Kurzportrait vor.

Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS)

- Einer der beiden Top-Favoriten auf den Wahlsieg ist die HZDS, die lange in den Umfragen vorne lag. Sie ist völlig auf ihren Gründer und unangefochtenen Vorsitzenden Vladimir Meciar zugeschnitten. In den 90er Jahren war sie an der Regierung und verhalf ihrem Chef, seine Machtposition gegen alle Regeln der Demokratie auszubauen. Damals kämpfte sie gegen eine Annäherung der Slowakei an den Westen und pflegte freundschaftliche Bande zu Russland. Erst vor einem Jahr vollzog sie, im Geleitzug ihres Chefs, den Wandel zu einer NATO- und EU-freundlichen Partei. Von ihren Wurzeln in der Bürgerbewegung der Samtenen Revolution ist heute nichts mehr zu spüren. Bis Juni erzielte sie in Umfragen bis zu 30 Prozent. Im Juli dieses Jahres spaltete sich ein Teil der Partei ab, zudem gab es Diskussionen um eine Privatvilla Meciars, die der Partei schadeten. Neueste Umfragen lassen sie nunmehr auf 15,7 Prozent kommen.

Smer (Richtung)

- Neuer Stern am slowakischen Polit-Himmel ist Robert Fico mit seiner Partei Smer. Ende 1999 spaltete sich Fico von der regierenden Partei der demokratischen Linken (SDL) ab und versetzte ihr damit einen herben Schlag. Als Vorbilder nennt Fico die britische Labourparty und die deutschen Sozialdemokraten unter Schröder. Fico will sich nicht in ein Links-Rechts-Schema einordnen lassen und spricht vom "dritten Weg", den er gehen will. Smer gibt sich zweigleisig, pocht auf "nationale Interessen", befürwortet gleichzeitig den Beitritt zur NATO und in die EU. Smer besitzt ein ausgearbeitetes Programm, doch Ficos Motto könnte eher lauten: das Programm bin ich. In den jüngsten Umfragen kann Smer mit 16,8 Prozent rechnen.

Slowakische Christliche und Demokratische Union (SDKU)

- Sie ist die größte Regierungspartei, der neben Ministerpräsident Mikulas Dzurinda ein großer Teil des derzeitigen Kabinetts angehört. Als interkonfessionelle "Union rechtszentristischer Strömungen" bietet sie Platz für Christdemokraten, Liberale und moderne Konservative. Ihr Vorbild ist die deutsche CDU. Die SDKU ist sehr stark von ihrem Gründer und Chef Dzurinda geprägt, der die Partei auf NATO- und EU-Kurs trimmte. Wenn sie in der künftigen Regierung mitmischt, wird sie die vor vier Jahren begonnenen Reformen in Politik und Wirtschaft fortsetzen. Lange Zeit unter 10 Prozent gehandelt, bekam sie vor den Wahlen ein wenig Aufwind und liegt nun bei 11,4 Prozent.

Partei der ungarischen Koalition (SMK)

- Bela Bugars Gruppierung ist ein Zusammenschluss von drei Parteien, welche die ungarische Minderheit vertritt. Die SMK kann mit einer fast hundertprozentigen Unterstützung unter den rund eine halbe Million zählender Ungarn rechnen. Vergangenes Jahr hatte sie beinahe die Regierungskoalition gesprengt, weil sie sich beim Neuzuschnitt der Wahlkreise benachteiligt fühlte. Als einzige Partei fordert sie die Abschaffung der Benes-Dekrete, auf deren Grundlage nach Ende des Zweiten Weltkrieges viele Ungarn vertrieben wurden. Zugleich gilt sie, neben der Partei von Dzurinda, als eine der stärksten Reformkräfte innerhalb der Regierungskoalition. Trotz ihres Anspruchs, eine "Volkspartei der rechten Mitte" zu sein, hat sie außerhalb der ungarischen Minderheit keine Wählerbasis. Diese ist jedoch sehr stabil und liegt heute bei 10,9 Prozent.

Allianz des neuen Bürger (ANO)

- Erst seit rund einem Jahr besteht die Allianz des neuen Bürgers mit der programmatischen Abkürzung ANO, also "Ja" (auf Slowakisch – MD). Gegründet wurde sie vom slowakischen Medienmogul Pavol Rusko. Er besitzt mit "Markiza" den größten slowakischen privaten Fernsehsender und hat ihn bereits ausführlich zur Propaganda für seine Partei genutzt. Damit zog er sich den Missmut seiner politischen Gegner zu. ANO gilt als Mitte-Rechts-Partei, die eine Regierungsbeteiligung anstrebt. Wie Fico wäre sie auch zu einer Zusammenarbeit mit der HZDS ohne Meciar bereit. In den neuesten Umfragen liegt ANO bei 8,9 Prozent.

Christlich-demokratische Bewegung (KDH)

-
Programmatische Leitsätze der KDH sind die Verteidigung christlicher und nationaler Werte und eine gemäßigte wirtschaftliche Reformpolitik. Vorsitzender der KDH ist Pavol Hrusovsky, auf der slowakischen Polit-Szene ein eher unauffälliger Parteichef. Die KDH hat eine stabile Anhängerschaft und kann nicht nur mit dem Einzug ins Parlament rechnen, sondern auch mit einer möglichen Beteiligung an der neuen Regierung. Derzeit kommt sie auf 8,5 Prozent.

Bewegung für Demokratie (HZD)

- Jüngstes Kind der abwechslungsreichen Parteiengeschichte stellt die Partei des ehemaligen Parlamentspräsidenten Ivan Gasparovic dar. Erst im Juli dieses Jahres verließ er mit einigen Kollegen die HZDS. Der ehemals treue Verbündete von Meciar war bisher der zweitpopulärste Politiker in der HZDS. Für viele ist die neue Gruppierung aber nur eine Kopie - gewissermaßen die "HZDS ohne Meciar." Auch programmatisch unterscheidet sie sich nicht sehr von der Meciar-Partei. Ihr Wähleranteil schwankte in den vergangenen Wochen zwischen fünf und zehn Prozent.

Slowakische Nationalpartei (SNS) - Unklar ist das Abschneiden dieser radikalen Partei, deren Stimmenanteil bei fünf Prozent pendelt. Die SNS verfolgt schon lange einen aggressiven anti-ungarischen Kurs, spricht sich sogar für eine Änderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung in der Südslowakei aus, wo die meisten Ungarn leben. Die Vorsitzende Anna Malikova gibt sich gemäßigt, möchte einen national-konservativen Kurs einschlagen und sich vom extremen Nationalismus verabschieden. Offiziell hält die SNS jedoch an ihren radikalen Positionen fest, wie beispielsweise an der Ablehnung von NATO und Europäischer Union sowie der aggressiven Rhetorik gegen Roma. (ykk)