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„Die Türkei sollte auf militärische Abenteuer im Nordirak verzichten“

21. Juli 2005

Nach Bombenanschlägen in türkischen Ferienorten droht die Türkei mit einem Einmarsch in die Kurdengebiete Nordiraks. Doch ein solcher Schritt hätte unkalkulierbare Folgen, meint Baha Güngör in seinem Kommentar.

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Ihr erstes kurzfristiges Ziel hat die militante Kurdische Arbeiterpartei PKK erreicht, nämlich die Türkei derart zu reizen, dass ihr Geduldsfaden reißt und sie mit dem Einmarsch ihrer Truppen in den Nordirak wie in den 80er und 90er Jahren droht. Die zunehmende Zahl von Angriffen auf Soldaten im Osten und Südosten Anatoliens und zuletzt die in westtürkischen Badeorten hochgegangenen Bomben, die dem türkischen Tourismus schweren Schaden zugefügt haben, konnte die Türkei nicht mehr tatenlos hinnehmen.

Bei allem Verständnis für die Sorgen der Türkei um die Sicherheit ihrer Grenzen ebenso wie um das Leben vieler unschuldiger Menschen wäre der Einmarsch zur Zerstörung von Unterschlüpfen der PKK in der nordirakischen Kurdenregion aber die schlechtere Alternative. Erstens haben sich die Vorzeichen entscheidend geändert. Früher waren die irakischen Kurden untereinander verfeindet. Die Türkei profitierte davon, weil vor allem die Demokratische Partei Kurdistans von Massoud Barzani mit den türkischen Sicherheitskräften kooperierte, um sich die Gunst des starken Nachbarn zu sichern. Zweitens gibt es in Bagdad nicht mehr das Regime von Saddam Hussein, dem es schlicht egal war, was sich in der Kurdenregion abspielte und sich deshalb kaum gegen die grenzüberschreitenden Operationen der Türken wehrte. Und: Nördlich des 36. Breitengrades war der Luftraum für die irakische Luftwaffe gesperrt und auch zu Lande hatten die irakischen Truppen kaum Entfaltungsmöglichkeiten.

Schlüsselfaktor USA

Doch inzwischen steht der Irak unter dem dominierenden Einfluss der USA. Zudem gibt es mit Dschalal Talabani einen Kurdenführer als neuen irakischen Präsidenten, der sich mit seinem früheren Dauerkontrahenten Barzani verbündet hat. Also sind Befürchtungen realistisch, dass türkische Truppen im Falle eines Einmarsches gegen die PKK nicht mit Unterstützung der irakischen Kurden rechnen können, vielmehr aber mit massivem Widerstand. Vor allem aber werden die Amerikaner es nicht akzeptieren, dass die Sicherheitslage sich noch weiter verschlechtert und dazu noch türkische NATO-Soldaten womöglich von amerikanischen zurückgedrängt werden müssten.

Ankaras Wunsch, die USA mögen gegen die PKK und ihre Führer im Nordirak vorgehen, ist angesichts der vorliegenden Fakten berechtigt. Zumal Washington die Kurdische Arbeiterpartei eindeutig zu den terroristischen Organisation zählt. Bei allem Verständnis muss die Türkei aber umsichtig vorgehen. Die Versäumnisse der Jahre seit der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Februar 1999 haben dazu geführt, dass nach offiziellen türkischen Angaben rund 75 Prozent der PKK-Mitglieder unter 35 Jahre alt sind, also Menschen, die der Arbeits- und Hoffnungslosigkeit in ihren Heimatregionen entfliehen wollen und dabei von politischen und religiösen Extremisten leicht für ihre Ziele instrumentalisiert werden. So wird allein die Zahl der zu Selbstmordanschlägen bereiten militanten Kurden in der Türkei von Experten auf rund 70 geschätzt.

Einmarsch gefährdet EU-Integration

Ein Einmarsch in den Nordirak würde weder für bessere Verhältnisse in den seit Jahrzehnten vernachlässigten türkischen Kurdenregionen sorgen, noch würde dadurch die Zahl der potenziellen Attentäter reduziert. Vor allem aber würden die weitere Heranführung der Türkei an die EU und der auf 3. Oktober terminierte Beginn von Beitrittsverhandlungen gefährdet, weil Brüssel nichts anderes übrig bliebe als die Beitrittsprozedur zu unterbrechen. Die Folgen wären sowohl für die Türkei als auch für diejenigen unkalkulierbar, die die Anbindung der Türkei an die EU nicht zuletzt unter dem Hinweis auf die essentiellen Interessen Europas in der Region wünschen.

Bei aller Kritik an der Türkei aber dürfen die Amerikaner die Antwort auf die Frage nicht länger hinausschieben, was sie im Nordirak wirklich planen. Wollen sie die nachvollziehbaren Sorgen der Türkei - eines zuverlässigen Verbündeten in einer konfliktreichen Region - um die Sicherheit ihrer Grenzen ignorieren? Oder halten sie langfristig sogar die Bildung eines Kurdenstaates für unausweichlich? Wenn die USA neben ihrer militärischen Stärke auch politische Größe unter Beweis stellen wollen, müssen sie die Türkei nicht nur verbal, sondern mit einer glaubwürdigen und vor allem wirksamen Strategie gegen die PKK unterstützen.

Baha Güngör

DW-RADIO/Türkisch, 21.7.2005, Fokus Ost-Südost