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Die unbekannte Zahl der Tschernobylopfer

Christine Harjes21. April 2006

Die Frage klingt ganz einfach: Wie viele Opfer forderte der Reaktorunfall von Tschernobyl? Eine Antwort scheint aber auch 20 Jahre nach dem GAU unmöglich. Die WHO überraschte in einer Studie mit extrem niedrigen Zahlen.

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Die Krebserkrankungen bei Kindern nahmen nach dem Unfall deutlich zuBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Schätzungsweise 4.000 Menschen werden an den Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl sterben, heißt es in einer Presseerklärung, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September vergangenen Jahres vorlegte. Bisher nachzuweisen seien allerdings erst 50 unmittelbare Todesopfer. Der britische TORCH-Report (The Other Report on Chernobyl) hingegen geht davon aus, dass noch 30.000 bis 60.000 Menschen wegen des Unfalls an Krebs sterben müssten. Neue Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften kämen für Weißrussland, Ukraine und Russland alleine sogar auf 270.000 zusätzliche Krebserkrankungen, von denen voraussichtlich 93.000 tödlich enden würden, teilte die Umweltorganisation Greenpeace jetzt in Berlin mit.

Auch Sebastian Pflugbeil, Physiker und Vorsitzender der Gesellschaft für Strahlenschutz, hält die Zahlen der WHO für völlig unrealistisch. Er habe sich ausführlich mit dem zu Grunde liegenden Bericht beschäftigt, sagt Pflugbeil. "Die 50 Toten, die dort angegeben werden, sind eine Frechheit." Pflugbeil zitiert weitaus höhere Zahlen. So habe ihm die stellvertretende Umweltschutzministerin der Ukraine berichtet, dass 17.000 Familien von Liquidatoren eine staatliche Rente bekommen, weil der Vater nach seinem Einsatz als Liquidator gestorben sei.

Als "Liquidatoren" bezeichnet werden die Reaktortechniker und Rettungskräfte, die nach der Katastrophe zum Aufräumen und zur Sicherung des Unfallortes eingesetzt wurden. Sie waren der radioaktiven Strahlung am stärksten ausgesetzt. Der Strahlenbiologe Professor Edmund Lengfelder von der Universität München schätzt die Zahl der toten Liquidatoren auf 50.000 bis 100.000. "Also diese Zahl, die von der Weltobrigkeit verkündet wird, stimmt hinten und vorne nicht", sagt Pflugbeil. Auch die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) rechnet mit Opferzahlen in dieser Größenordnung.

Vorwurf der Befangenheit

Eine Frau und ein Kleinkind werden im Oktober 1989 auf Radioaktivität untersucht.
Messung der Radioaktivität nach dem UnfallBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Die WHO berief sich in ihrer Presseerklärung auf eine Studie des in Lyon ansässigen WHO-Instituts für Krebsforschung (IARC). Das hatte in seiner Untersuchung allerdings festgestellt, dass mit 9.000 bis 10.000 Todesopfern zu rechnen sei. Die kanadische Strahlenepidemiologin Elizabeth Cardis, die die Forschungsarbeiten leitet, hat eine simple Erklärung für die abweichenden Zahlen: "In der Presseerklärung fasst die WHO die Ergebnisse zusammen und hebt nur die Toten unter den drei am stärksten der Strahlung ausgesetzten Gruppen hervor. Das sind die Liquidatoren, die Evakuierten und die Bewohner der streng kontrollierten Zonen." Hier habe auch die IARC-Schätzung bei 4.000 zu erwartenden Toten gelegen. Andere Quellen gehen allerdings davon aus, dass allein von den 600.000 Katastrophen-Einsatzkräften bereits 50.000 gestorben sind.

Pflugbeil vermutet hinter der WHO-Auslegung des Berichtes dagegen politische Motive. Schließlich habe die WHO die Zahlen im Rahmen des von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) geleiteten Tschernobylforums bekannt gegeben. "Das Geschäft der IAEA ist die Weiterverbreitung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Das steht in ihrem Statut und das, was bei Tschernobyl passiert ist, ist natürlich nicht geschäftsfördernd für die Kernindustrie", sagt Pflugbeil. Also versuche man die Probleme herunterzuspielen. So sei der Tenor der Veranstaltung "Kein Grund zur Beunruhigung" gewesen. "Da wird manipuliert und runtergemogelt, wo man nur mogeln kann, in der Hoffnung, dass sich niemand die Mühe macht, sich die Zahlen anzugucken." Pflugbeil ist nicht der Einzige, der die Allianz mit der IAEA für die niedrigen Zahlen verantwortlich macht. Die WHO-Mitteilung zu den Tschernobylfolgen stieß neben der IPPNW bei NGOs auf der ganzen Welt auf Widerspruch.

Mehr Informationen zur Ukraine finden Sie hier

Klare Arbeitsteilung

Hajo Zeebra, Wissenschaftler bei der WHO, weist diese Vorwürfe zurück. Beim Tschernobylforum habe es eine klare Aufteilung zwischen der IAEA und der WHO gegeben. "Die IAEA hat sich um die Umweltfolgen gekümmert und die WHO hat sich um die Gesundheitsfolgen gekümmert und dazu wurde dann unabhängig gearbeitet. Die WHO hat sich nicht weiter von der IAEA beeinflussen lassen, so dass man von einer Unabhängigkeit ausgehen kann", erklärt Zeebra. Der WHO liegt aber tatsächlich daran, der Situation etwas von ihrer Dramatik zu nehmen. "Wenn die Bevölkerung immer weiter verunsichert wird und auch die nächsten zig Jahre weiter mit den schrecklichen Folgen konfrontiert wird, gehen wir davon aus, dass das nicht zuträglich für die Gesundheit der Bevölkerung ist", sagt Zeebra.

Unsichere Ausgangsdaten

In einem Punkt immerhin sind sich die Experten einig: Alle Studien über die Gesundheitsfolgen können immer nur Schätzungen sein. So betont Elisabeth Cardis, wie unsicher die Annahmen der IARC-Studie sind. Den Forschungsarbeiten liegen kaum Daten aus Tschernobyl zu Grunde, sondern sie basieren hauptsächlich auf Daten von völlig anderen Bevölkerungsgruppen. "Das waren japanische Atombombenüberlebende, die während des Krieges vor 50 Jahren während eines kurzen Zeitraums einer sehr hohen Strahlendosis ausgesetzt waren. Bei Tschernobyl sprechen wir von Menschen, die in verstrahlten Regionen leben und auch weiter dort leben werden. Sie sind inneren und äußeren Verstrahlungen ausgesetzt." Schon die Zahl der überhaupt von der radioaktiven Strahlung betroffenen Menschen ist schwierig festzustellen. Während die IARC von insgesamt fünf Millionen Menschen ausgeht, schätzt Pflugbeil die Zahl auf neun Millionen. Und damit meint er nur die Betroffenen in Weißrussland, der Ukraine und in Russland. Man könne aber davon ausgehen, dass zwei Drittel des Schädigungspotenzials außerhalb der Tschernobylzone niedergegangen seien, sagt Pflugbeil. So kommt Pflugbeil bei seinen Berechnungen von Kranken und Toten denn auch auf Opferzahlen im sechsstelligen Bereich. Eine krasse Abweichung von den Zahlen der WHO.