1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Verfassung im Alltag

Steffen Leidel25. Mai 2005

Ist die EU-Verfassung ein abstraktes Regelwerk geschaffen nur für Regierungschefs und Berufspolitiker? Inwiefern ist sie für den einzelnen Bürger im Alltag spürbar? Begleiten Sie unseren fiktiven EU-Bürger.

https://p.dw.com/p/6gm8
Was spüren die Europäer von der Verfassung?

Keiner kann behaupten, dass das "Zielpublikum" der EU-Verfassung klein ist. Geschrieben ist sie - theoretisch - für 450 Millionen Menschen - so viele wohnen nämlich in den 25 Mitgliedsstaaten der EU. Doch richtig viele Leser hat das Opus nicht gefunden. Unsere User fragen immer wieder, was diese Verfassung dem Einzelnen genau bringen soll. Eins steht fest: Die Verfassung berührt den Alltag der EU-Bürger - direkt und indirekt. Aber welche Bestimmungen regeln nun was?

Grundrechte werden großgeschrieben

Um das herauszufinden, nehmen wir uns einfach einen fiktiven EU-Bürger, den wir D.W. nennen wollen. Ob D.W. nun ein Mann oder ein Frau sein soll, darüber entscheiden Sie selbst! Da halten wir uns ganz an die EU-Verfassung, die lehnt nämlich jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, etc. ab, siehe Artikel II-81. Die Gleichheit von Frauen und Männern gehört zu den Grundwerten, die in der Verfassung verankert sind. Dazu zählen ebenfalls: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

Direkter Draht zum Kummerkasten

Fühlte sich D.W. in seinen Grundrechten verletzt, kann er oder sie diese einklagen, in jedem Land der EU. Ist D.W. verärgert über die Arbeit einer Behörde oder Institution der EU, kann D.W. sich direkt an den "Europäischen Bürgerbeauftragten" wenden. Dieser Beauftragte, zurzeit der Grieche Nikiforos Diamandouros, nimmt die Beschwerden auf und erstattet dann Bericht. Diskriminierung und Machtmissbrauch sowie unnötige Verzögerungen oder die Verweigerung von Informationen gehören zu dem von ihm am häufigsten behandelten Problem. Zwei Beispiele aus der Praxis: So beklagte sich schon mal ein 40-jähriger Student über die Altersbeschränkungen für Praktika bei der EU-Kommission. Oder EU-Beamte beschwerten sich über fehlende Nichtraucher-Zonen im Europäischen Parlament - mit Erfolg. Ab 1. Januar 2007 ist das gesamte Parlament "rauchfrei". 2004 landeten 3700 Beschwerden beim Bürgerbeauftragten auf dem Tisch, Tendenz steigend.

Ein Recht mit Haken

Mündige Bürger für Europa! - das wollen die "Macher" der EU-Verfassung. Sie preisen als Beweis für mehr Partizipation das "Initiativrecht" für die EU-Bürger. Damit könnten sich die Europäer unmittelbar Gehör verschaffen. D.W. könnte über sein "Initiativrecht" der Kommission ein Gesetz zur Verabschiedung vorschlagen. Voraussetzung wäre, dass mindestens 999.999 andere EU-Bürger sein Begehren unterstützen. Ein weiterer Haken: Diese Bürgerinitiative rührt nicht am Initiativrecht der Kommission, die letztlich selbst entscheidet, ob sie der Aufforderung nachkommt oder nicht.

Grundfreiheiten

Die EU-Verfassung garantiert den Europäern mehr Freiheiten als bisher. D.W. ist nicht mehr nur Staatsbürger seines Heimatlandes, sondern bekommt quasi als Zugabe noch die Unionsbürgerschaft dazu. Damit erhält D.W. zusätzliche Rechte. Er kann von Polen bis nach Spanien reisen und sich dort aufhalten, ohne Zeitlimit. Auch wenn D.W. Pole ist, könnte D.W. sich trotzdem bei Bürgermeisterwahlen in Spanien aufstellen lassen, wenn D.W. dort einen Wohnsitz hat.

Eine europäische Identität

Die EU-Bürger sollen auch eine europäische Identität entwickeln. Deshalb ist in der Verfassung eine Reihe Europäischer Symbole verankert: eine Flagge - sie stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar. Die Europäische Hymne - sie stammt aus der Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven. D.W. könnte sich auch noch den europäischen Leitspruch "In Vielfalt geeint" auf seine Pinnwand heften und am 9. Mai den Europatag mit dem Rest der EU-Bürger feiern.

Gestärkt werden soll auch die Solidarität unter den Europäern. Wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer von Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist, handeln die Union und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam im "Geiste der Solidarität" - gegebenenfalls unter Einsatz militärischer Mittel -, um den betroffenen Mitgliedstaat zu unterstützen.

Hehre Ziele

Die Liste der hehren Ziele, die D.W. einen höheren Lebensstandard garantieren sollen, ist lang. Dazu gehören auch der Umwelt und Verbraucherschutz. D.W. soll gute Luft atmen können und wissen, was bei ihm auf den Mittagstisch kommt. Ob diese Vorsätze auch in der Praxis umgesetzt werden, das steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Eine praktische Anwendung ist zum Abschluss jedem zu empfehlen. Die Verfassung macht sich auf jeden Fall gut im Bücherregal, kaufen braucht man sie nicht, das Werk gibt es in jedem EU-Informationszentrum kostenlos.