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Die vergessene Epoche

Ralf Lehnert14. November 2002

Fast 30 Jahre lang ließ man im Spanien nach Franco die Verbrechen des diktatorischen Regimes ruhen – um des lieben Friedens willen. Jetzt stellt sich das Land endlich seiner Geschichte.

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Ein Bürgerkriegsveteran auf dem FriedhofBild: AP

"Mein Großvater wurde in den ersten Tagen des Septembers 1936 erschossen, zusammen mit mindestens drei weiteren Personen", berichtet Mercedes Sánchez im Internet-Forum des spanischen "Vereins zur Wiedererlangung der Erinnerung", der sich die Aufarbeitung der spanischen Geschichte zur Aufgabe gemacht hat. "Der Ort der Erschießung und des Grabes ist in der Nähe von Mombeltrán in der Provinz Ávila. Aber wir wussten nie genau wo", klagt die Spanierin.

Meine Großmutter durfte nicht einmal seine sterblichen Überreste finden, um ihn außerhalb der Friedhofsmauer zu begraben, wie es mit Verstoßenen üblich war."

Suche nach der eigenen Geschichte

Basilio Pernudo, der Großvater von Mercedes Sánchez, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 auf Seiten der Republik. Die Nationalisten unter General Francisco Franco, der sich gegen die Regierung erhoben hatte, gingen brutal gegen ihre Gegner vor. Mehr als 50.000 von ihnen, so die jüngsten Recherchen, verschwanden in Massengräbern. Bis heute wissen die meisten Angehörigen nicht, wo ihre Großeltern und Eltern, Onkel und Tanten begraben sind.

Francisco Franco
Francos dunkles Erbe beschäftigt SpanienBild: AP

Das Schweigen hat lange angehalten, bis zum Oktober 2000. Damals machte sich der Journalist Emilio Silva mit Hilfe eines Zeitzeugen auf die Suche nach dem Ort, an dem ein Mordkommando Francos seinen Großvater Emilio Silva Faba und weitere zwölf Männer verscharrt hatte. Der 36-Jährige hatte Erfolg. Ein viertel Jahrhundert nach dem Tod des Diktators Franco wurden mit den sterblichen Überresten der Ermordeten erstmals auch die schrecklichen Verbrechen wieder ans Licht gebracht.

Es scheint eine Art Initialzündung gewesen zu sein. Der Damm war gebrochen und viele Angehörige von Verschwundenen nahmen Kontakt zu Silva auf. Noch im Dezember 2000 gründete er mit Mitstreitern eben jenen "Verein zur Wiedererlangung der Erinnerung". Zehn Gräber hat die Gruppierung inzwischen geöffnet, 41 Tote wurden geborgen, über 1000 Suchanträge sind eingegangen.

Der Pakt des Schweigens zerbricht

Zur gleichen Zeit drängt die Franco-Zeit immer vehementer ins Bewußtsein der spanischen Gesellschaft. Eine Flut von Romanen und Sachbüchern und eine erfolgreiche Fernsehserie beschäftigen sich plötzlich mit dieser in Spanien lange verdrängten Epoche. Auch eine sehr erfolgreiche Ausstellung widmete sich dem Thema. "Exilio" dokumentiert die Vertreibung von hunderttausenden Regimegegnern, die in den letzten Monaten des Bürgerkrieges ihr Heimatland hinter sich lassen mussten.

Bis vor kurzem noch war diese Form von Aufarbeitung in Spanien unbekannt, ja unmöglich. Zwar rühmen sich die Spanier, allen voran Ministerpräsident José Maria Aznar gerne der so genannten Transición - des friedlichen Übergangs zur Demokratie nach dem Tod Francos. Doch sie war mit einem ungeschriebenen Pakt des Schweigens verbunden, um die junge Demokratie nicht zu gefährden. "Es gab ein stillschweigendes Abkommen, dass man nicht in der Vergangenheit wühlt, um einen Konflikt zu verhindern," erklärt Serran Ferrando Melia, Direktor des spanischen Kulturintituts Instituto Cervantes in München, im Gespräch mit DW-WORLD.

Andere Generation und neue Fragen

Dass es erst jetzt, 25 Jahre nach Francos Tod und 63 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, zur Beschäftigung mit Francos Verbrechen kommt, erklärt er sich damit, dass jetzt eine "andere Generation, die Fragen stellt, die aus der Distanz anders fragt". Angst, dass durch die Diskussion in der spanischen Gesellschaft neue Gräben aufgerissen werden, hat Melia nicht. "Die spanische Demokratie wird sicher damit zurechtkommen." Es handele sich ja um einen Prozess des produktiven Verarbeitens. Und auch Mercedes Sánchez bestätigt: "Wir wollen keine Rache. Nur Gerechtigkeit und dass das Schweigen endet, das auf unseren Toten und Verschwundenen lastet."