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Wahlen - nein danke?

Das Interview führte Sergej Morosow2. Dezember 2007

Am 2. Dezember wählt Russland: Warum Putin eine Mehrheit bekommen wird und der der Rest nicht wählen geht, erklärt Lew Gudkow, Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts 'Levada' im DW-WORLD-Interview.

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Lew Gudkow, russischer Soziologe und Direktor des Meinungsforschungsinstitutes 'Levada', Foto: DW
'Wie zu Zeiten der staatlichen Leibeigenschaft'Bild: DW
DW-WORLD.DE: Wie ist die allgemeine Stimmung unter der Bevölkerung Russlands vor den Parlaments- und der Präsidentschaftswahlen? Lew Gudkow: Wir beobachten eine zunehmende Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen - vor allem in den letzten anderthalb Jahren: Erstmals sind die Menschen eher zufrieden als unzufrieden. Vor 15 Jahren, seit 1991, war die Stimmung eindeutig negativ: Die Menschen dachten, das Land sei nicht auf dem richtigen Weg, ihre Meinung und Interessen würden nicht berücksichtigt, ihre Einkünfte sanken. Allerdings ist dieser Optimismus nicht auf alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig verteilt: Nur 15 bis 20 Prozent haben von den Veränderungen der letzten Jahren profitiert. Für die Meisten hat sich gefühlsmäßig nichts groß verändert.

Jedoch haben sich die Menschen von der Finanzkrise 1998 erstmals erholt und rechnen in der nächsten Zeit nicht mehr mit schwerwiegenden Erschütterungen. Die Formel lautet demnach nicht: "Schaut, wie gut es uns geht", sondern: "Gott sei Dank, es geschieht nichts Schlimmes".

Ist das der Grund für die Popularität von Wladimir Putin und seiner Partei "Geeintes Russland"?

Zum Teil. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung hat immer noch eine sowjetische Denkweise: Die meisten Russen, besonders auf dem Dorf, aber auch in den Städten, meinen, dass sie ohne Hilfe des Staates nicht auskommen können und erwarten eine Versorgung, kostenlose medizinische Betreuung oder soziale Leistungen. Und daher hängt dieser Teil der Bevölkerung von den Machthabenden ab. Und wenn man von dem Missbrauch der strukturellen Macht, dem Druck auf die Wähler, der Verdrängung der Opposition, der Kontrolle über Medien und anderen "Reizen" der gelenkten Demokratie absieht, dann setzen die Menschen schon auf die "Partei der Macht", wie die Russen Putins Partei nennen. Sie hoffen, dass die Machthabenden auf alle ihre Bedürfnisse eingehen.

Wie ist die aktuelle Wählerstimmung in Russland?

Die wichtigsten Tendenzen haben sich schon herausgebildet: Die sind sehr eindeutig und werden sich wohl grundsätzlich, abgesehen von einigen Schwankunegn bis zu dem Ende der Wahlen nicht mehr ändern: 53 Prozent der Bevölkerung beabsichtigen an der Abstimmung teilzunehmen. Entsprechend 47 Prozente werden aus politischen Gründen nicht wählen gehen.

Was für Gründe sind das?

Die Nichtwähler bezweifeln, dass ihre Stimme entscheidend seien könnte. Sie sind überzeugt, dass die Wahlergebnisse gefälscht werden und wir beobachten eine Politikverdrossenheit: Sie glauben den Politikern nicht mehr. Und es gibt solche, die keine Partei finden, die ihre Interessen vertreten. Demnach entscheiden sich die Nichtwähler bewusst gegen den Urnengang. Nur fünf Prozent werden ihre Stimmen nicht abgeben, weil sie sich "mit der Politik nicht auskennen". Die restlichen 53 Prozent haben die Wahl irgendwie getroffen.

Wie sind die Chancen der einzelnen Parteien? Die Verteilung der Stimmen nach der Duma-Wahl könnte ungefähr so aussehen: 59 Prozent wird an Putins "Geeintes Russland" gehen, 18 Prozent an die Kommunisten, 9 Prozent erhält die Partei linkspopulistische Partei "Gerechtes Russland", die 2006 eigens vom Kreml geschaffen wurde, um den Kommunisten Wählerstimmen abspenstig zu machen und 7 Prozent erhält voraussichtlich die rechtskonservative und ultranationalistische Partei von Wladimir Schirinowski, das heißt, sie wird die Sieben-Prozent-Hürde knapp schaffen.

Bedeutet das, dass keine der oppositionellen demokratischen Parteien ins Parlament kommt?

Ich glaube nicht: Einen geringen Stimmenzuwachs im Vergleich zu der Wahl vor vier Jahren wird meiner Meinung nach die liberale "Jabloko-Partei" von Grigori Jawlinski bekommen, aber nicht mehr als drei Prozent. Die liberale "Union der Rechten Kräfte" erreicht höchstens zwei Prozent. Selbst wenn sich alle demokratischen Oppositionskräfte zusammenschlössen, könnten sie die Sieben-Prozent-Hürde nicht schaffen.

Ich rechne bei der Wahl mit keinen Überraschungen, denn was kann schon passieren, wenn der Information, Propaganda und das Handeln der Parteien aufs Strengste kontrolliert werden? Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Schirinowski-Partei in den letzten Tagen vor der Wahl ihre Popularität noch steigert, wie es bereits mehrmals passiert ist. Aber dies ist nur dann möglich, wenn auf die Partei kein Druck ausgeübt wird. Im Prinzip ist Schirinowski in der aktuellen Situation - in der gelenkten Demokratie - für den Kreml nicht mehr von Nutzen. In einer gewissen Weise diskreditiert er den Kreml.

Heißt das, dass die Duma wieder vom Kreml dirigiert wird?

In der nächsten Duma wird die absolute Mehrheit den Kreml-treuen Parteien gehören, deshalb wird sie durchaus lenkbar sein und in diesem Sinn von der Exekutive abhängig, gehorsam und geschäftsunfähig sein.

Was halten die Russen von diesen aktuellen Entwicklungen ihres politischen Systems?

Die meisten haben kaum eine Vorstellung davon, was eine Demokratie ist, denn sie haben nie in der Demokratie gelebt. Mehr noch: Die populistische konservative Demagogie der 1990er Jahre seitens der Kommunisten und später seitens der "Partei der Macht" hinsichtlich der Reform-Politik und der demokratischen Parteien hat dazu geführt, dass die Prinzipien und Modelle der Demokratie in Verruf geraten sind. Je nach dem Bildungsniveau und Informationsgrad verstehen die Russen unter Demokratie das Recht, die Macht zu kritisieren, Reisefreiheit oder sogar Chaos, Zerfall, leere Versprechen und Demagogie. Dass Demokratie eine Staatsordnung ist, die auf Gewalttrennung und auf freier Konkurrenz der politischen Parteien basiert, verstehen die alle Meisten nicht. Nur 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung sind mit den Grundlagen der Demokratie wirklich vertraut.

Gibt es in Russland ein Bedürfnis nach der Entwicklung der Zivilgesellschaft?

Nein. Die russische Gesellschaft bleibt sehr konservativ. Zum Teil kann man die Denkweise der Bevölkerung mit der der Bauern in den Zeiten staatlicher Leibeigenschaft vergleichen. Sie schauen von unten nach oben zu den Machthabenden, sie sind an die Willkür der Macht gewöhnt und erwarten von der Regierung Fürsorge: Dafür überlässt man den Machthabenden den eigenen Willen.