1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zerstörerische Macht

18. Mai 2009

Menschenrechtsverletzungen im Krieg verursachen individuelle und kollektive Traumata. Werden sie nicht verarbeitet, kann das fatale Folgen für die Gesellschaft haben, schreibt Trauma-Expertin Karin Griese.

https://p.dw.com/p/Hkne
Vor allem Kinder sind nach Konflikten traumatisiertBild: AP

Bombardierung, Vergewaltigung, Folter, Überfälle: All das erleben Menschen im Krieg und viele werden dadurch traumatisiert. Ähnlich gravierend ist es für Frauen, wenn sie hilflos zusehen müssen, wie Nacht für Nacht andere Frauen von Vergewaltigern aus dem Lager geholt werden, und sie wissen, dass es jede Nacht auch sie selbst treffen kann. Oder wenn Menschen gezwungen werden, die Ermordung oder Folter von Angehörigen mitzuerleben.

Traumatische Ereignisse sind gekennzeichnet von Todesangst, gepaart mit extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es sind weder Kampf noch Flucht möglich, die Situation ist ausweglos. Regel- und Schutzlosigkeit kennzeichnen den Krieg. Werden die Gefühle von Ausgeliefertsein im Angesicht von Chaos und Gewalt konkret erfahren, geht ein elementares Gefühl für grundlegende Sicherheit verloren. Hinzu kommt die Zerstörung sozialer Netzwerke. Dies ist meist ein Teil der Kriegsstrategie, um die Gegner zu schwächen. In Bosnien wurden vergewaltigte Frauen zum Beispiel noch einmal dadurch erniedrigt, dass sie der Dorfgemeinschaft vorgeführt wurden mit der Aufforderung, sie zu beschimpfen.

Ein permanenter Überlebensstress

Durch den extremen Stress, der das Leben und die Identität des Menschen bedroht, sprengt ein Trauma die normalen Prozesse, in denen Erfahrungen verarbeitet werden können. Die Folge: Funktionsstörungen, Panikattacken, Depressionen, chronische Schmerzen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung ("PTBS") können das Leben der Betroffenen über Jahre hinweg massiv beeinträchtigen.

Kongo - Vergewaltigungsopfer in Südkivu
Vergewaltigungsopfer in der Provinz Südkivu, Kongo 2007. Tausende Frauen wurden bei den Unruhen zwischen Regierungstruppen und Rebellen in der östlichen Provinz des Kongo vergewaltigtBild: picture-alliance/dpa

Traumatisierte Menschen leiden – grob gesagt - darunter, dass sie durch unverarbeitete bedrohliche Erfahrungen unbewusst einem permanenten Überlebensstress verhaftet bleiben. Manche fühlen sich in ständiger Alarmbereitschaft, sind aggressiv oder schnell gereizt und das hat oftmals auch langfristig körperliche und psychische Folgen.

Die unverarbeiteten Erlebnisse halten die Vergangenheit präsent. Viele Ereignisse der Gegenwart, wie etwa eine medizinische Untersuchung bei Frauen, die vergewaltigt wurden, bewirken eine Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung und rufen die schmerzhaften Erinnerungen so lebendig hervor, dass es so ist, als ob sie alles noch einmal erleben würden.

Zerstörerische Wirkung auf die Gemeinschaft

Neben den individuellen, psychischen Folgen haben die Traumafolgen auch eine zerstörerische Wirkung auf die soziale Gemeinschaft. So wird durch die massive zwischenmenschliche Gewalt und Brutalität das Vertrauen in andere Menschen tief erschüttert. Viele Menschen isolieren sich, um sich vor erneuten Verletzungen zu schützen. In Nachkriegsgesellschaften wurde beobachtet, dass insgesamt die zwischenmenschliche Gewalt im Vergleich zu Friedenszeiten ansteigt. Auch das hängt unter anderem mit unverarbeiteten Traumata zusammen.

Ohnmacht und damit verbundene Wut und Aggression setzen sich in der oftmals schwierigen ökonomischen Situation fort. Es entstehen neue Abhängigkeiten, die Gewaltverhältnisse fördern, auch zu Friedenstruppen und internationalen Helfern. So gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass diese ihre Machtposition im Land immer wieder ausnutzen und sexuelle Handlungen von Frauen und Kindern im Tausch gegen Nahrungsmittel oder andere Hilfsmittel erzwingen oder erkaufen.

Folgen bis in die Enkelgeneration

Die Macht der unverarbeiteten Traumata ist groß. Studien zu den Auswirkungen des Holocaust zeigen, dass sich die Folgen noch in der Generation der Kinder und Enkel fortsetzen können. Traumatisierungen beeinträchtigen oftmals den Zugang zu und den Umgang mit Emotionen – was sich auch auf die Kinder auswirkt. Außerdem: Auch tief sitzende Ängste und Stress können sich übertragen, ohne dass sie gegenüber den Kindern geäußert werden - unter anderem auch während der Schwangerschaft. Das Fortschreiten der neuro-biologischen Hirnforschung bringt hier ständig neue Erkenntnisse.

Soziale Stabilität entscheidend

Für die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen ist es entscheidend, dass die Betroffenen sich irgendwann wieder physisch und psychisch sicher fühlen können. Sie brauchen materielle Sicherheit, Zugang zu medizinischer Versorgung und psychosozialer Unterstützung und vor allem soziale Bindungen, ein soziales Netz. Oft schafft die gesundheitliche und soziale Stabilisierung für viele Menschen überhaupt erst die Möglichkeit, sich wieder mit der Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen. Das aber ist die Voraussetzung dafür, sich aktiv an der friedensfördernden Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte und am gesellschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen.

Bildgalerie Frauen in Afghanistan
In Afghanistan sind nach Jahrzehnten des Krieges viele Menschen traumatisiertBild: AP

Gleichzeitig ist es für die Verarbeitung der individuellen und kollektiven Bewältigung von schweren Menschenrechtsverletzungen elementar, dass die Leiden von der Gesellschaft anerkannt, die Verbrechen geahndet und die Täter verurteilt werden. Aus machtpolitischen Interessen in Postkonfliktsituationen wird oftmals von der Bevölkerung verlangt, die Ahndung der Kriegsverbrechen zurückzustellen. Dies zugunsten einer oberflächlichen Befriedung. In Afghanistan etwa, durch die Integration von Warlords in die Regierung. So bleibt der Schmerz der Vergangenheit immer präsent.

Gewalttätiges Geschlechterverhältnis bearbeiten

Aber es gibt auch andere Hinderungsgründe. Denn: Was bedeutet Gerechtigkeit für Frauen, die im Krieg vergewaltigt worden sind? In Liberia zum Beispiel mussten dies etwa zwei Drittel der Frauen erfahren. Zu ihrer eigenen oft lebensbedrohlichen Verletzung kommt noch die Stigmatisierung und moralische Verurteilung durch die Familie, Dorfgemeinschaft und Gesellschaft hinzu. So ist es für viele besser und sicherer, nie mehr in ihrem Leben über das Erlebte zu sprechen – schon gar nicht vor Gericht.

Eine Bewältigung sowohl der individuellen als auch der kollektiven Kriegstraumata hin zu einer wirklichen Befriedung der Nachkriegs-Gesellschaft muss also auch die Reflexion des gewalttätigen Geschlechterverhältnisses beinhalten. Eine äußere Demokratisierung ist ohne die innere tatsächlich nicht nachhaltig.

Durch ihre Lebenserfahrungen bringen viele Frauen für Verständigung und Versöhnung prädestinierte Kompetenzen mit. Deshalb sieht medica mondiale sie in einer maßgeblichen Rolle bei der zivilen Konfliktbearbeitung und unterstützt Frauen beim Einklagen ihres Rechts auf politische Partizipation an Wiederaufbau- und Friedensprozessen.

Karin Griese medica mondiale eV
Bild: medica mondiale

Autorin: Karin Griese arbeitet als Referentin für Traumaarbeit bei der Frauen- und Menschenrechtsorganisation medica mondiale mit Sitz in Köln. medica mondiale unterstützt vergewaltigte und von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen in Kriegs- und Konfliktgebieten wie in Afghanistan, Kosovo und Liberia mit eigenen Frauenberatungszentren, in anderen Regionen, wie der Demokratischen Republik Kongo, in Kooperation mit Frauenorganisationen vor Ort. Die Geschäftsführerin Monika Hauser erhielt 2008 für ihre Arbeit und die ihrer Organisation den Alternativen Nobelpreis.

Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning/stl