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Die doppelte Wirklichkeit

Das Interview führt Luna Bolívar Manaut (stl)26. November 2006

Er ist eine der bekanntesten linken Stimmen Chiles: Tomás Hirsch. Links sei nicht gleich links. Chile sei in Wirklichkeit neoliberal, Venezuela interessant, aber zu militaristisch. Doch Bolivien sei auf einem guten Weg.

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Tomás Hirsch
Für Tomás Hirsch wird Chile zu positiv dargestelltBild: presse

DW-WORLD.DE: Lateinamerika rückt nach Links: Venezuela, Bolivien, Chile, Uruguay, Brasilien, Argentinien werden dann oft in einem Atemzug genannt. Bekommt die Linke in Lateinamerika eine neue Chance?

Tomás Hirsch: Ich glaube in ganz Lateinamerika wird darüber nachgedacht, was es heißt links zu sein. Es gibt viele Regierungen in Lateinamerika, von denen in der Welt momentan behauptet wird, sie seien links. Chile ist so ein Fall. Doch studiert man deren Wirtschaftpolitik, wird man feststellen, sie sind in Wirklichkeit nicht Links. Sie sind nur das geschönte Antlitz eines verbreiteten neoliberalen Modells. Michelle Bachelet ist ein guter Mensch. Sie will in dem Land Veränderungen bewirken, erreichen wird sie keine einzige

Aber die Bedingungen ändern sich: In Mexiko hat die wahre Linke gewonnen. Danach haben gab es Betrug und man hat ihnen den Wahlsieg abgesprochen. In Bolivien und in Venezuela ist die Linke an der Macht. In Peru hat sie wichtige Fortschritte erzielt. In Kolumbien hat der "Polo Democratico" von 4 auf 23 Prozent zugelegt. In Chile hinken wir etwas hinterher, denn Chile ist das Land, dass das neoliberale Modell am meisten verinnerlicht hat. Das trifft auf die anderen Länder nicht zu, deshalb soll Chile dieses Modell auf den Rest des Kontinents übertragen.

Evo Morales und Hugo Chávez sind für Sie also modellhafte Linke und keine Populisten?

Sie müssen unterscheiden. Der Prozess in Venezuela geht von oben nach unten. Chávez versucht mit viel Kraft, Geld und Macht sein Projekt der sozialen Basis näher zu bringen - mit einem sehr eigenen Stil, einer eigenen Sprache, mit Populismus. Doch seine Absicht ist ganz klar die Integration Lateinamerikas. Die Richtung stimmt, doch es gibt Dinge, die mir an der venezolanischen Entwicklung nicht gefallen, zum Beispiel die Tendenz zum Militarismus.

Und wie sieht es in Bolivien aus?

Das ist etwas ganz anderes. Dieser Prozess entwickelt sich von unten nach oben. Hier stellen die sozialen Bewegungen die Regierung. Es gibt über das, was dort passiert viele Fehlinformationen. Ich war oft in Bolivien, habe lange mit Evo Morales und seinen Organisationen gesprochen. Es ist ein sehr interessanter Prozess: man erfüllt das Versprechen eine verfassungsgebende Versammlung einzurichten, die natürlichen Ressourcen zu nationalisieren und die Rechte der indigenen Völker zu garantieren. Ich fühle mich dem bolivianischen Prozess sehr verbunden.

Wäre eine Bewegung wie in Bolivien auch in Chile denkbar?

Jedes Land ist anders. Bolivien ist stark von den Indigenen geprägt. 63 Prozent der Bevölkerung sehen sich selbst als Indigene, man spricht gar von einem Anteil von über 80 Prozent. In Chile liegt dieser Anteil nur bei rund zehn Prozent. Zweitens gibt es in Bolivien einen starken Regionalismus, der zu schweren Spannungen führt. Und drittens gibt es in Bolivien Erdgas und Erdöl, was dem Land eine besondere Stellung verleiht.

Was muss für die chilenische Linke Priorität haben?

Die große Herausforderung für die chilenische Linke liegt heute nicht nur darin, für wirtschaftliches Wachstum zu sorgen, sondern auch zu garantieren, dass dieser Reichtum gerecht verteilt wird. Die offizielle Version von Chile klingt sehr schön. Aus der makroökonomischen Perspektive geht es dem Land hervorragend. Das einzige "kleine Problem" ist, dass die Leute davon nicht satt werden. Die Leute brauchen ein Gehalt oder eine Rente. Das hat sich aber extrem verschlechtert. Die Einkommensverteilung in Chile ist eine der ungerechtesten weltweit.

Dabei heißt es doch immer, Chile sei ein Modelland…

Ich habe dieses Jahr 14 europäische und 15 lateinamerikanische Länder besucht. In allen 29 musste ich den Unterschied zwischen dem offiziellen Chile und dem realen Chile erklären. Überall haben sie mich mit den Worten: "Was für ein wunderbares Land ist doch Chile! Es ist wieder demokratisch und hat soziale Gerechtigkeit, Fortschritt, und wirtschaftliche Stabilität wiedererlangt. Es hat die Armut abgeschafft." Dann antworte ich: "Das muss ein tolles Land sein. Ich möchte es unbedingt mal besuchen.

Und warum haben dann alle diese Bild, wenn es nicht stimmt?

Das Image bestimmen die multinationalen Unternehmen, das Finanzwesen und natürlich die Regierung von Chile. Sie haben ein großes Interesse daran, dass dieses Modell auch andere Länder erfasst. Ich frage mich: Wie viele Mapuche-Indianer, die noch immer eingesperrt sind und denen sie das Land wegnehmen, haben die Möglichkeit nach Europa zu reisen? Und die Studentenführer: Haben die die Möglichkeit in Spanien oder Deutschland zu erzählen, dass das Bildungswesen nur ein großes Geschäft ist? Und wie viele Landwirte dürfen erklären, dass der Freihandelsvertrag für sie der Ruin ist? Diese Wirklichkeit kennt man nicht, es gibt offenbar auch kein Interesse daran, sie kennen zu lernen. Schauen Sie sich doch nur das Thema Korruption an: "In Chile gibt es keine Korruption hört man". Ich sage, es ist ein Skandal, wie viel Korruption es in diesem Land gibt.

Tomás Hirsch von der Humanistischen Partei, war einer der Mitbegründer der Mitte-Links-Koalition "Concertacion für Demokratie", die seit dem Ende der Diktatur von 17 Jahren in Chile regiert und zu der auch Bachelet gehört. Inzwischen ist er davon überzeugt, dass "sich in der Führungsspitze der Concertación eine Bande von Kriminellen eingenistet" hat. Hirsch und die Humanistische Partei, die die Regierungskoalition längst verlassen haben, kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 2005 für das Bündnis "Juntos Podemos", konnte aber nur 5,4 der Stimmen auf sich vereinen. "Juntos Podemos" verstand sich als "soziale" Alternative zum Rest der chilenischen Parteien, doch der Erfolg blieb aus. Hirsch will seinen politischen Kampf aber nicht aufgeben.