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Die zwei Leben des Javier Otxoa

Claus Hecking13. September 2003

Javier Otxoa ...? Richtig, spanischer Radrennfahrer. Einst Etappensieger der Tour de France, heute Teilnehmer der paralympischen Europameisterschaften in Teplice. Otxoa auf dem Weg zurück ins Leben.

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Javier Otxoa bei der Tour de France 2000Bild: AP

Javier Otxoa beißt die Zähne zusammen. Kälte und Wind haben sein Gesicht gezeichnet, das vom strömenden Regen durchnäßte Trikot klebt dem Radprofi am Körper. Drei Pyrenäenpässe hat sich der Spanier an diesem Tag schon hochgequält, 130 Kilometer Ausreißversuch hat er nun schon in den Beinen. Doch er tritt weiter stoisch in die Pedale, die Serpentinen hoch nach Lourdes-Hautacam. Es wird sich lohnen: Otxoa gewinnt die Königsetappe der Tour de France 2000, vor Lance Armstrong. Die spanischen Medien nennen ihn einen Helden.

Die Überwindung

Drei Jahre später: Otxoa beißt die Zähne zusammen. Erbarmungslos brennt die baskische Sonne auf seinen Kopf, das schweißnasse Trikot klebt ihm am Körper. Es ist sein dritter Berg an diesem Tag, die Beine schmerzen. Doch er tritt weiter stoisch in die Pedale. Es wird sich lohnen - auch wenn ihn diesmal niemand feiert. Das Kämpfen hat Otxoa nicht verlernt. Geändert haben sich in den vergangenen drei Jahren nur die Gegner. Statt gegen Armstrong oder Ullrich tritt der 28jährige Baske heute gegen die Blutgerinnsel in seinem Kopf an, die ständigen Schwindelanfälle. Und vor allem gegen die Angst, die ihn immer überkommt, wenn er auf der Straße hinter sich Motorengeräusche hört. Denn die erinnern ihn jedes Mal an den 15. Februar 2001.

Der Unfall

Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Ricardo radelte der Kelme-Profi auf dem Seitenstreifen einer Landstraße vom Training nach Hause, als ein Volvo von hinten in die beiden Radfahrer raste. Ricardo starb noch am Unfallort, Javier wurde mit schweren Kopf-, Rücken- und inneren Verletzungen sowie mehreren Knochenbrüchen ins Krankenhaus von Málaga eingeliefert. "Als ich ihn dort liegen sah", erinnert sich sein damaliger Teamchef Vicente Belda, "sah ich einen toten Mann." Fast neun Wochen lag Otxoa im Koma, magerte auf 49 Kilo bei 1,84 Meter Körpergröße ab. Und als sich auch noch seine gequetschte Lunge entzündete, rieten die Ärzte den Eltern, die Maschine abzuschalten, die ihren Sohn am Leben erhielt. Doch die weigerten sich. Sieben Tage später schlug Javier die Augen auf. Er hatte überlebt.

Das Wunder

Der Preis dafür war hoch. Als seine Eltern Otxoa nach über fünf Monaten nach Hause holten, war er vollkommen hilflos: Er konnte weder zusammenhängende Sätze bilden noch einfache Rechenaufgaben lösen oder Messer und Gabel richtig halten; dazu schien ihm ein Leben im Rollstuhl bevorzustehen. Abermals schrieben ihn die Mediziner ab, diesmal als chronischen Pflegefall; "auf mich hat keiner von denen einen Pfennig gesetzt", sagt Otxoa. Doch die Ärzte hatten die Rechnung ohne den Patienten gemacht. Denn dessen Zustand besserte sich plötzlich rasant. Innerhalb weniger Monate lernte Otxoa, zu sprechen, Straßen alleine zu überqueren und ohne fremde Hilfe zu laufen - seinen schweren Hirnverletzungen zum Trotz. "Ich habe niemals das Handtuch geworfen, das habe ich als Radfahrer so gelernt", erklärt der Baske seine rasche Genesung. "Mein Ziel war es, wieder Fahrrad fahren zu können. Darauf habe ich hingearbeitet, jeden Tag."

Das Ziel

Trotz massiver Gleichgewichtsstörungen trainierte er unverdrossen weiter: zuerst auf einem Ergometer, dann auf einem Rad mit Stützrädern. Und im November 2002, 21 Monate nach dem Unfall, bestieg er schließlich erstmals wieder ein normales Rennrad. Seither ist er für seinen einstigen Teamchef Belda der "lebende Beweis, daß es Wunder gibt". Solche Komplimente prallen an Otxoa ab. Zwar könne er selbst nun ein Leben in Würde führen, sagt er. "Aber mein Bruder ist gestorben, und ich selbst werde niemals der alte sein. Nur weil ein rücksichtsloser Autofahrer nicht aufgepaßt hat."

Auch zweieinhalb Jahre nach dem Unglück hat Otxoa noch Depressionen. Um diese zu bekämpfen, hat er sich nun ein neues Ziel gesetzt: abermals Rennen zu fahren und zu gewinnen. "Ich will wieder ganz gesund werden, und vielleicht gelingt mir das am besten auf dem Rad", hofft er. Seit Februar 2003 trainiert Otxoa wieder, 80 Kilometer pro Tag - obwohl er sich jedes Mal neu überwinden muss, bevor er auf die Straße fährt.