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Musik

Oksana Lyniv: "Wir haben ein Recht auf Wunder"

5. Januar 2017

Die Klassikwelt hat einen neuen Star: Oksana Lyniv dirigiert große Opernproduktionen und assisitiert Kyrill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. In ihrer Heimat hat sie jetzt ein nationales Jugendorchester gegründet.

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Dirigentin Oksana Lyniv Ukraine
Bild: Oleg Pavlyuchenkiy

DW: Oksana Lyniv, Sie sind als Dirigentin sehr eingespannt. Warum halten Sie ausgerechnet jetzt die Zeit dafür gekommen, um in der Ukraine ein nationales Jugendorchester zu gründen?

Oksana Lyniv: Es ist höchste Zeit! Unser Land ist seit 25 Jahren unabhängig, und die Krise der letzten drei, vier Jahre beweist wieder einmal, wie wichtig eine gemeinsame nationale Identität ist. Nur wenn wir uns als Nation definieren, können wir auch eine klare Botschaft nach außen transportieren. Ich finde, ein Jugendorchester ist das beste Medium, um diese Ziele zu erreichen.

Neulich fand das erste Vorspiel statt, fast 100 junge Musikern kamen nach Lviv. Darunter gab es viele, die die internationale Jury sehr stark beeindruckt haben. Die musikalische Ausbildung scheint in der Ukraine ein sehr hohes Niveau zu haben ...

Vorab: Alle diese junge Menschen sind für mich Helden: Sie müssen unglaubliche Schwierigkeiten überwinden, um sich der Musik zuzuwenden - und das ohne große berufliche Perspektive. Die alten sowjetischen Strukturen sind weitgehend zusammengebrochen, das Neue entsteht mühsam. Die finanzielle Situation im Land ist sehr schlecht, kaum eine Familie kann es sich leisten, ein gutes Instrument für ihr Kind zu kaufen. Aber die ukrainische Nation ist sehr musikalisch! Wenn wir in der Ukraine für unsere Kinder Bedingungen schaffen, die mit den westeuropäischen ansatzweise vergleichbar sind, wenn also die Kinder an Meisterklassen und Wettbewerben teilnehmen könnten und das mit guten Instrumenten - dann würde die Welt viel mehr gute ukrainische Musiker kennenlernen.

Bei den Vorspielen in Lviv war sozusagen die gesamte ukrainische Geographie vertreten: Charkiw und Odessa, Lviv und Kiew, aber auch Donezk und Luhansk. Viele jungen Menschen aus dem Osten leben zurzeit als Flüchtlinge in anderen ukrainischen Städten. Kann so ein Jugendorchester auch zu einer Art Friedensorchester werden?

Sicher, absolut! West- und Ostukrainer haben ein, sagen wir mal, distanziertes Verhältnis zueinander. Ich kenne das von mir selbst: Im Westen geboren dachte ich lange, die Menschen im Osten meines Landes seien irgendwie anders als wir "Wessis" und hätten eine andere Mentalität, die nicht zu unserer passt. Erst als ich als Dirigentin an die Oper von Odessa kam, habe ich diese Vorurteile Schritt für Schritt abgebaut. Und auch umgekehrt: Denn als ich nach Odessa kam, sagten viele: "Wieso haben wir eine aus der Westukraine genommen? Haben wir keine eigenen Musiker hier?" Mittlerweile bin ich ihre Lieblingsdirigentin und werde immer wieder eingeladen. Nur durch persönliche, enge Kontakte und vor allem durch die kreative Zusammenarbeit finden Menschen einen Weg zueinander.

Anna  Shahova Flötistin
Anna Shahova war eine der fast 300 Bewerberinnen und BewerberBild: DW/Y.Dankevich

Es gibt weltweit die unterschiedlichsten Modelle, ein Jugendorchester zu leiten. Sie und Ihre Kollegen bevorzugen aber das "deutsche Modell" des Bundesjugendorchesters. Warum?

Ich habe meine Erfahrung mit Schulorchestern, und das sind keine besonders guten. Dort herrscht die Pflicht; Schüler und Studenten hassen oft die Proben, hassen die Dirigenten. Und das tut niemandem gut, denn wenn etwas unter Zwang passiert, hat es keine Qualität. Das Modell eines Landes- oder Bundesjugendorchesters ist etwas anderes: Es bewerben sich nur diejenigen, die wirklich wollen. Dann muss man zum Vorspiel kommen und sich der Prüfung stellen. Arbeitsphasen und Tourneen finden in den Ferien statt - das ist die Zeit, wo man ganz bei der Sache ist. Etwas ganz Besonderes ist es auch, dass man mit Altersgenossen an einen besonderen Ort reist und dort "in Klausur" geht. Ich liebäugele schon mit der Region Karpaty mit seiner wunderbaren Natur.

Es ist geplant, dass die Musiker des ukrainischen Jugendorchesters im Sommer mit ihren Altersgenossen vom Bundesjugendorchester musizieren. Was ist wichtig an diesem Austausch?

Ich erinnere mich, wie spannend für mich meine erste Reise nach Deutschland war. Das hat meine Weltsicht verändert. Besonders spannend könnte es für die jungen Leute aus dem Osten der Ukraine sein, wo die antideutschen Ressentiments mit all den Filmen über den Zweiten Weltkrieg, die ständig im russischen Fernsehen laufen, noch stark sind. Aber ich denke, auch den deutschen Jugendlichen wird es helfen, über ihren Tellerrand zu schauen.

Sie machen gerade international Karriere. Es ist sehr viel Arbeit, die Sie mit dieser Orchestergründung auf sich nehmen. Warum machen Sie das?

Warum? Weil auch mein Werdegang eigentlich ein Wunder ist. Er wurde durch viele kleine Zufälle ermöglicht: Ich habe zufällig in unserem Konservatorium einen Flyer über einen Mahler-Wettbewerb in Bamberg gefunden. Alle sagten: "Du brauchst keine Anmeldung schicken, du wirst sowieso nicht genommen." Aber da ich sowieso keine andere Chance hatte, habe ich mich beworben. Ich hatte nicht einmal einen Lehrer, der mich auf den Wettbewerb vorbereitet hätte. Ich habe mir Aufnahmen aus dem Internet runtergeladen und mich selbst vorbereitet. Vor dem Wettbewerb hatte ich ein Jahr lang kein Orchester dirigiert, und nun stand ich da mit der Fünften Sinfonie von Mahler und Schuberts Fünften! Es folgte Odessa, dann die Einladung nach München… Aber je weiter ich komme, je mehr Möglichkeiten ich habe, desto mehr spüre ich, dass hinter mir ebenso begabte junge Menschen stehen, die in der gleichen Lebenssituation sind. Wenn man Ihnen eine Chance gibt, können sie sofort durchstarten! Sie haben sozusagen auch ein Recht auf ein Wunder…

Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.