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Die Schere im Kopf entschärfen

4. April 2010

Der Streit um türkische Schulen hat in Deutschland die Integrationsdebatte verschärft. Diskriminierung als Integrationshemmnis wird dabei zu wenig diskutiert. Wie man sie bekämpfen kann, zeigt ein Pilotprojekt in Bremen.

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Eine Türkin im Schulungsraum (Foto: dpa)
Bild: dpa

202 Seiten umfasst die Erklärung mit dem Titel "Nationaler Integrationsplan". Das Papier entstand 2007. Darin stellen Regierung, Gewerkschaften, Vereine und Verbände 400 Selbstverpflichtungen vor, um die Integration von Migranten zu verbessern. Das Wort Diskriminierung fällt zehn Mal, meistens in Floskeln versenkt und wenig konkret. Das sei ein Armutszeugnis, meint der Integrationsforscher Mario Peucker, der am Europäischen Forum für Migrationsstudien in Bamberg arbeitet. Im Februar dieses Jahres (2010) veröffentlichte er eine Studie zur ethnischen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.

Mario Peucker, Integrationsforscher vom EFMS der Uni Bamberg (Foto: privat)
Integrationsforscher Mario Peucker kritisiert den politischen Umgang mit DiskriminierungBild: Peucker

"Die Politik hat nicht erkannt, dass Diskriminierung eine zentrale Frage der Integration ist", sagt er. Es herrschten nach wie vor starke Ressentiments in den Personalabteilungen deutscher Unternehmen vor. Die Arbeitswelt sei nicht der einzige, aber ein wichtiger Baustein für erfolgreiche Integration.

Einstellungshindernis: türkischer Name

Allein der ausländische Name senkt einer Studie Konstanzer Wissenschaftler zufolge die Wahrscheinlichkeit um 24 Prozent, von einem mittelgroßen Unternehmen zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Was jetzt empirisch nachgewiesen wurde, ist Willi Derbogen schon lange bekannt. Der Pädagoge arbeitet im Projekt Antidiskriminierung in der Arbeitswelt (ADA) in Bremen. "Gerade der Übergang von der Ausbildung ins Berufsleben ist bei Migranten problematisch", sagt er. "Wir bieten zum Beispiel Seminare für Betroffene an, in denen sie lernen, sich erfolgreicher zu bewerben - mit aussagekräftigen Zeugnissen und Selbstbewusstsein."

ADA wurde im vergangenen Jahr 2009 eingerichtet und wird vom Bund sowie der Europäischen Union gefördert. Hier will man Betroffene beraten, aber auch versuchen, Diskriminierung in den Betrieben vorzubeugen. Dies sei besonders wichtig in einer Stadt wie Bremen, in der der Anteil von Personen aus Zuwandererfamilien über der bundesweit ermittelten 20-Prozent-Marke liegt. Das Projekt soll eine Pilotfunktion in der Region erfüllen, vielleicht aber auch bundesweit Nachahmer finden. Zwar gibt es in Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Hamburg Antidiskriminierungsprojekte. Doch ein flächendeckendes Angebot gibt es nicht. In Bayern etwa fehlen Beratungsstellen für Betroffene beinah gänzlich - München ausgenommen.

Beratungsstelle und Gewerkschaften arbeiten zusammen

Die Büros von ADA liegen im Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das ist kein Zufall. "Das Besondere an unserem Projekt ist die Vernetzung mit strategischen Partnern wie Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden", erklärt Derbogen. Mitarbeiter der Gewerkschaften und kooperierenden Unternehmen werden vom Team der ADA geschult: Wie gehe ich mit Diskriminierung im Betrieb um? Wie kann Gleichbehandlung schon bei der Einstellung gewährleistet werden? Was rate ich Betroffenen?

Drei Jahre läuft die Förderung durch die öffentliche Hand; danach soll sich die Stelle selbst finanzieren können. Auch dabei geht es um eine Beteiligung der Gewerkschaften, die sich im Integrationsplan der Bundesregierung 2007 selbstverpflichtet haben: "Der DGB und die Gewerkschaften wollen dazu beitragen, dass Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung bei der Auswahl von Jugendlichen unterbleiben. Sie unterstützen die Betriebs- und Personalräte darin, Diskriminierungen bei der Einstellung von Jugendlichen entgegen zu wirken."

Bei Betroffenen herrscht Informationsmangel

Der Bundestag berät 2005 unter anderem über das umstrittene Antidiskriminierungsgesetz (Foto: dpa)
Wenig Interesse? Ein schwach besetzter Bundestag berät 2005 das Allgemeine GleichstellungsgesetzBild: dpa

Heute hat etwa jeder zweite Türkischstämmige in Deutschland schon einmal Diskriminierung am Arbeitsplatz erfahren, wie die EU-Grundrechtsagentur jüngst ermittelte. Das Bremer Projekt will Betroffene beraten und sie über rechtliche Schritte gegen Diskriminierung in der Arbeitswelt informieren. Denn seit 2006 gilt in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das unter anderem die Benachteiligung wegen ethnischer Herkunft verhindern soll.

Diskriminierung ist kein Kavaliersdelikt. Die Regelung berechtigt Betroffene zur Klage und zur Forderung von Schadensersatz. Doch noch ist es bei den meisten gänzlich unbekannt. Es ist ein Papiertiger geblieben. "Wir wollen, dass das Gesetz endlich mit Leben gefüllt wird", beschreibt Derbogen einen wichtigen Auftrag seiner Einrichtung.

Diskriminierung als Systemfehler

Angebote wie die des Bremer Projekts seien extrem wichtig, weiß Integrationsforscher Peucker. Deshalb müsse das Netz von Antidiskriminierungsstellen unbedingt verdichtet werden. "Solche Einrichtungen sind ein zentraler Punkt beim Thema Integration", sagt der Wissenschaftler. Hier gehe es vor allem um den Kampf gegen direkte Formen der Diskriminierung durch Personalabteilungen oder Mitarbeiter.

Doch daneben existiere auch "strukturelle" Diskriminierung. "Dahinter muss keine Absicht stehen. Strukturelle Diskriminierung kommt ohne Täter aus", sagt Peucker. Beispiele seien das deutsche Schulsystem, das der PISA-Studie zufolge Schüler aus Zuwandererfamilien besonders stark benachteiligt, oder die übliche Bewerbungspraxis. Hier sei es an der Politik, Regelungen zur Gleichbehandlung zu finden, um Fehler im System zu beheben. Denkbar wäre etwa ein anonymisierter Lebenslauf ohne Bewerbungsbild und mit Zifferncode statt Namen.

Christine Lüders, Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung (Foto: privat)
Christine Lüders, Antidiskriminierungsbeauftragte der BundesregierungBild: Christine Lüders

Im März 2010 griff die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Lüders, diesen Vorschlag auf und ermunterte Großunternehmen zur Einführung einer solchen anonymen Bewerbung. "Diese Maßnahme begrüße ich sehr", sagt Integrationsforscher Peucker. In Frankreich würden entsprechende Modellprojekte bereits durchgeführt.

Starke öffentliche Debatte erwünscht

Doch Diskriminierung beginne letztlich im Bewusstsein der Menschen. Da sind sich der Wissenschaftler Peucker und der Pädagoge Derbogen einig. Diskriminierung als Integrationshemmnis müsse in Deutschland wie etwa in Großbritannien oder Skandinavien viel stärker diskutiert werden - in der Wissenschaft, in der Politik, auf der Straße. Nur so ließen sich langfristig Erfolge erzielen. "Solange wir jedoch diesbezüglich eine Schere im Kopf haben, werden wir von der ADA immer Arbeit haben", sagt Derbogen. Politische Sonntagsreden reichten dabei nicht aus. Es gehe um eine Kultur der Antidiskriminierung.

Autor: Martin Schlupp
Redaktion: Kay-Alexander Scholz