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Drahtseilakt ohne Netz

Baha Güngör, Ankara 24. Februar 2004

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder beendet am Dienstag (24.2.) seinen zweitägigen Besuch in der Türkei. Das Land kann aus Schröders Unterstützung eines türkischen EU-Beitritts Mut schöpfen, meint Baha Güngör.

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Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte leichtes Spiel, als er seinen türkischen Gastgebern sagte, dass Deutschland den Wunsch der Türkei unterstütze, Vollmitglied in der Europäischen Union zu werden. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan betonte seinerseits, dass sein Land dazu entschlossen sei, die Reformen fortzuführen und die Kopenhagener Kriterien umzusetzen.

Leichtes Spiel hatte Schröder vor allem deshalb, weil seine christdemokratische Gegenspielerin Angela Merkel nur eine Woche zuvor Erdogan und die türkische Öffentlichkeit auf die Palme getrieben hatte: Das Land solle den 1963 in einem Assoziierungsabkommen gewünschten und 1987 beantragten EU-Beitritt vergessen und sich stattdessen mit einer "privilegierten Partnerschaft" einverstanden erklären.

Sympathien für Schröder

Und so gehörten die Sympathien der türkischen Öffentlichkeit - am Ende dieses Wechselbades der Gefühle - eindeutig dem Sozialdemokraten Schröder. Auch sein grüner Außenminister Joschka hatte sich vor kurzem lobend über die Türkei geäußert. Schröder schwor vor der Regierung in Ankara ebenso wie vor der deutsch-türkischen Geschäftswelt in Istanbul, dass ein Abrücken vom 40-jährigen Versprechen ausgeschlossen sei.

Die rot-grüne Regierung in Berlin geht sogar einen Schritt weiter: Sie ist der Auffassung, die von Ankara erleichterte Lösung des Zypern-Konflikts müsse als eine zusätzliche Leistung gewürdigt werden. Schließlich habe der historische türkisch-griechische Streit um die Mittelmeerinsel, die am 1. Mai voraussichtlich als eine wiedervereinte Republik zur EU beitreten wird, nichts mit den Kopenhagener Kriterien zu tun. Die EU-Kommission werde darüber befinden, ob die Türkei in Sachen Demokratie und Menschenrechte sowie wirtschaftliche Entwicklung die Erwartungen erfüllt habe, um dann im Dezember dieses Jahres grünes Licht für Beitrittsverhandlungen zu geben.

Vorteile für beide Seiten

Dass Beitrittsverhandlungen nicht mit dem Ziel aufgenommen werden, sie abzubrechen, sondern mit dem Ziel des erfolgreichen Abschlusses irgendwann, ist auch in Ankara kein Geheimnis. Erdogan verweist auf die psychologisch positiven Signale, die die Kredit- und Glaubwürdigkeit der Türkei derart erhöhen würden, dass ausländische Investitionen wieder verstärkt in das Land fließen und den Reform-Eifer fördern.

Das Haupt-Interesse beider Seiten konzentriert sich nicht nur auf die gegenseitigen wirtschaftlichen Vorteile: Ein Land mit moslemischer Bevölkerung und einem funktionierenden pluralistischen demokratischen System, das sich an europäischen Werten und Normen orientiert, würde die Stabilität in der Region stärken. Darüber hinaus aber wäre eine solche Synthese türkischer Art ein Modell-Fall für die islamische Welt, die seit Jahrzehnten gespannt abwartet, ob der türkische Versuch gelingt.

Kein Plan B

Als Fazit könnte man ziehen, dass alles im Lot ist. Die Türkei hat das Gespann Schröder/Fischer auf ihrer Seite, sie hat zwar Merkel gegen sich, doch die Umfragen zeigen, dass sowohl in Deutschland als auch in der Türkei die Strategie zur Heranführung der Türkei an die EU mehrheitlich unterstützt wird.

Dennoch ist größte Vorsicht geboten: Wenn der Bericht der EU-Kommission doch nicht wie erwartet ausfällt und Beitrittsverhandlungen nicht fest terminiert werden können - einen alternativen Plan gibt es nicht. Was also passiert, wenn es doch negativ verläuft?

Chance verdient

Es ist ein politischer und diplomatischer Drahtseilakt ohne Netz: In Europa lauern die Gegner des EU-Beitritts der Türkei und in der Türkei die nationalistischen und religiös motivierten Falken auf ihre Chance zuzuschlagen. Das Ziel EU-Beitritt der Türkei würde zur Utopie, die begonnenen Reformen erschienen wie eine Farce. Die Überlebens-Chancen der Regierung Erdogan wären minimiert - trotz vieler positiver Zeichen wie etwa der niedrigsten jährlichen Inflationsrate seit 25 Jahren, die gegenwärtig bei 18 Prozent liegt. Der Einfluss Europas auf die Entwicklungen in der Türkei würde enorm sinken. Das wiederum würde den Einklang des NATO-Staates mit den Interessen Europas bei Krisen - wie zuletzt beim Irak-Konflikt - stark gefährden.

Die Türkei hat die Chance verdient, sich mit Hilfe Europas und allen voran Deutschlands zu einem beitrittsfähigen Land zu entwickeln. Europa sollte die Chance nutzen, zu beweisen, dass verschiedene Religionen und Kulturen sehr wohl in der Lage sind, gemeinsam zur Festigung des globalen Friedens beizutragen. Kaum ein anderes Land als die Türkei ist in der Lage, Europa diesen Beweis zu bringen.