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Dramaturgie des schwierigen Gipfels

Alexander Kudascheff10. Dezember 2003

Am kommenden Wochenende (13./14.12.) sollen die EU-Staatschefs über die europäische Verfassung abstimmen. Vieles spricht dafür, dass der Gipfel diesmal scheitern könnte.

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So langsam ist die Nervosität in der Haupstadt Europas mit Händen zu greifen. Wird der Gipfel am Wochenende (13./14.12.2003) ein Erfolg? Werden sich die Staats- und Regierungschefs aus inzwischen 25 Ländern auf eine gemeinsame europäische Verfassung einigen können? Wird es ein großer Wurf, oder wird es ein Kompromiss auf kleinstem gemeinsamen Nenner sein? Wird der Verfassungsentwurf des Konvents bis ins Detail zerplückt werden - oder gelingt es doch im Großen und Ganzen seine Ideen zu bewahren? Und: Wer wird der Sieger des Gipfels sein? Der Konvent, Spanien und Polen, die unter allen Umständen ihre Privilegien durchsetzen wollen oder Frankreich und Deutschland und andere, die den Entwurf bewahren wollen? Fragen über Fragen - und vom sonst üblichen Optimismus ist im Brüsseler Politgetriebe wenig zu spüren.

Logik der Diplomaten

50 zu 50 werden die Chancen für einen Erfolg von den Realisten und den Optimisten eingeschätzt, und das sind nicht sehr viele. Der Rest gibt sich pessimistisch. Und das, obwohl natürlich alle wissen: Zur Dramaturgie eines so schwierigen Gipfels gehört der Poker, gehört die apokalyptische Beschwörung des Scheiterns (Meister hierin: der deutsche Außenminister Joschka Fischer), gehört das gelassene Taktieren (unübertroffen: Jean-Claude Juncker), gehört das harte und hartnäckige Insistieren (Meisterduo hier: Spanien und Polen). Denn wenn der Gipfel nicht scheitern kann, dann ist der Erfolg auch kein Triumph, so einfach ist die Logik der Diplomaten.

Und doch: Irgendwie ist dieser Gipfel nicht so wie er sein sollte. Denn: Als auf dem europäischen Gipfel in Nizza im Winter 2000 die Staats- und Regierungschefs nach quälenden, nach zermürbenden Stunden, Tagen und Nächten endlich Antworten auf die institutionellen Fragen der EU gefunden hatten - die man mit einem Satz zusammenfassen kann: Wie kann man die EU der 25 vernünftig und effizient führen? - war allen auch klar: Das Ergebnis war schlecht und so kann es nicht weitergehen. Deswegen beschloss man schon in Nizza: Man wolle einen Konvent einberufen, der eine Verfassung ausarbeiten solle - die die Handlungsfähigkeit der EU und ihre demokratische Legitimität sichere.

A und O der politischen Mathematik

So weit, so gut. Dann machten sich mehr als 100 Parlamentarier und Regierungsmitglieder auf den Weg, debattierten mehr als ein Jahr lang unter der autoritären Führung von Giscard d'Estaing und schrieben schließlich Verfassungsgeschichte - mit dem ersten europäischen Verfassungsvertrag. Er wurde vorgelegt, er bekam den Applaus, den er verdient, er bekam die berechtigte Kritik, die er verdient (nicht ambitioniert genug) - und dann wurde er zerredet, von den Nationalstaaten selbst. Es wurde gefeilscht wie auf dem Pferdebasar. Plötzlich zählten die Kompromisse des Konvents nicht mehr. Plötzlich sollte Nizza wieder das A und O der europäischen politischen Mathematik sein. Mit einem Wort: Nach dem Konvent war wieder Nizza. Und es zeigte sich: Die Lehren von Nizza waren vergessen, jetzt geht es wieder um das nationale Eingemachte. Also: Wir können nicht auf unseren Kommissar verzichten, so die Einen. Wir brauchen soviel politisches Gewicht, wie man uns in Nizza zugestanden hat, so die anderen.

Der europäische Außenminister? Klasse, aber wir nennen ihn nicht so. Mehrheitsentscheidungen, na klar - aber nicht hier und da und dort. Und der Ratspräsident, um ein bisschen Kontinuität zu schaffen? Sehr gut, aber ergänzt um Teampräsidentschaften. Mit einem Wort: Alles, was der Verfassungskonvent nach zermürbenden Diskussionen niedergeschrieben hat, ist wieder hinfällig. Und damit die Verfassung. Die Zeichen stehen also auf Sturm in Brüssel. Und die Verfassungsväter müssen fast hilflos sehen wie ihr Werk zerredet und zerstritten wird. Und so erlebt Brüssel, womit niemand gerechnet hat: eine Renaissance von Nizza.