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Drang nach Westen

26. Februar 2002

– Chancen für Wirtschaftsaufschwung in Görlitz durch polnische Nachbarn

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Posen, 24.02.2002, WPROST, poln.

Vor achthundert Jahren galt in Polen das Deutsche Recht zur Ansiedlung, das den Ankömmlingen aus dem Westen spezielle Privilegien bei der Niederlassung in Polen sicherte. Das Recht wurde ihnen gewährt, weil sie neue Errungenschaften und Technologien sowie neue Wirtschaftsformen nach Polen brachten.

Nach achthundert Jahren gibt es jedoch das Recht zur Niederlassung nach Polnischem Recht in Deutschland. Die Bürgermeister und die lokalen Behörden gewähren den Polen Privilegien, die sie zur Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit anreizen sollen. Sie zählen darauf, dass dank der Polen die Ostgebiete Deutschlands wiederbelebt werden. (...)

Die Polen dominieren bereits im Bereich der Dienstleistung auf der deutschen Seite der Grenze. Sie ziehen in die Wohnungen ein, die von Deutschen verlassen wurden, die in den Westen gezogen sind. Der politische "Drang nach Osten" aus der Zeit der Feindschaft gegenüber Polen wurde durch den wirtschaftlichen "Drang nach Westen" ersetzt.

"Zum ersten Mal in der Geschichte wird Polen nicht germanisiert, sondern Ostdeutschland polonisiert. Unter den Studenten der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ist es schwierig, einen Deutschen zu finden, der nach dem Abschluß eine Firma in Polen führen möchte. Viele Polen hingegen denken über eine wirtschaftliche Tätigkeit in Deutschland nach. Schon jetzt gibt es in Deutschland Tausende von Polen, die sich schnell in der neuen Umgebung zu recht finden. Sie machen das, was wir über Jahrtausende gemacht haben", bemerkt Professor Arnulf Baring, von der freien Universität in Berlin.

Wir haben überprüft, wie es um die polnische Expansion in Ostdeutschland bestellt ist.

Görlitz, früher eine der reichsten Städte Deutschlands, stirbt langsam ab. Jedes Jahr wird es von etwa 3 000 jungen Menschen verlassen, die, um Arbeit zu finden, in den Westen fahren. In Görlitz gibt es 9 000 leerstehende Wohnungen. Die Polen haben begonnen, diese Wohnungen zu mieten. Bisher arbeitet die Mehrheit von ihnen jedoch noch in Polen. Nach Angaben von Karen Köhler, die im Ausländeramt der Stadt Görlitz beschäftigt ist, wohnen zur Zeit laut offizieller Statistik 483 Polen in Görlitz, d.h. doppelt so viel wie 1993. Es reicht jedoch, durch die Stadt spazieren zu gehen und einige Restaurants zu besuchen, um sich davon zu überzeugen, dass diese offiziellen Zahlen viel zu niedrig sind. Fast überall ist die polnische Sprache zu hören. In den Statistiken werden nämlich die Personen nicht berücksichtigt, die Wohnungen untermieten und täglich die Grenze passieren.

Dariusz Kander ist aus der Stadt Piekary Slaskie (in Polen - MD) nach Deutschland gekommen. Zuerst hat er sich in Bremen aufgehalten und dann beschlossen, sich in Görlitz niederzulassen. Schon bald danach ist es ihm gelungen, Freunde und Familie davon zu überzeugen, Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen zu verlassen und sich "näher zur Familie und nah an Polen niederzulassen". Jetzt möchte jeder von ihnen weitere Freunde für den Umzug überzeugen. Dariusz Kander hat in Westdeutschland von der Arbeitslosenunterstützung gelebt. In Görlitz eröffnete er eine eigene Autohandelsfirma und hat nun vor, in Polen Zäune aus Eisen produzieren zu lassen. Seine deutschen Kollegen ziehen es vor, von der staatlichen Unterstützung zu leben. "Ihre Passivität ist die Chance für uns. Ein Pole ist heute von Beruf Elektriker, aber morgen macht er den Meister als Mechaniker und eröffnet eine eigene Firma", sagt Dariusz Kander (...)

Die Deutschen haben bisher die Ankömmlinge aus Polen mit Mißtrauen betrachtet. "Die Deutschen fürchten sich nach wie vor vor uns, sie beleben alte Vorurteile, weil sie Angst vor der polnischen Geschäftstüchtigkeit haben", sagt Laura Kowalak. Eine ähnliche Ansicht vertritt Sören Liebig, ein Rechtsanwalt aus Görlitz. "Die an die Polen gerichteten Einladungen werden hauptsächlich vor den Medien ausgesprochen. In Wirklichkeit versuchen die deutschen Behörden oft, sie davon abzuschrecken", erzählt Sören Liebig. Der Oberbürgermeister von Görlitz, Rolf Karbaum, möchte, "dass sich bald nach dem Beitritt Polens zur EU viele Polen dafür entscheiden, in Görlitz zu leben". Einige der Polen haben sich jedoch dazu entschlossen auf die Aufnahme Polens in die EU nicht zu warten. "Es wird immer öfter dazu kommen, dass man in Deutschland wohnt, wo es schöne Wohnungen gibt, aber nach Arbeit in Polen sucht", bemerkt Gerhard Gnauck, Journalist der Zeitschrift "DIE WELT".

Ulf Grossmann, der Bürgermeister von Görlitz, ist noch nicht sicher, ob man über solch eine Tendenz schon sprechen kann. "Wir sind uns der Tatsache bewußt, dass es nicht leicht sein wird, die Wirtschaft in Görlitz zu beleben, da die polnischen Städte eine immer größere Anziehungskraft haben. Die deutschen Beamten sind Realisten. Die Polen könnten sich als einzige Chance erweisen und zwar vor allem im Bereich der Dienstleistung."

Der Bürgermeister von Zgorzelec, Miroslaw Fiedorowicz, lobt die Atmosphäre bei den Kontakten mit den Nachbarn: "Ich beobachte, wie der Stolz der Deutschen sinkt und die Überzeugung, dass sie anders und besser seien", erklärt Miroslaw Fiedorowicz.

Während die Stadt Görlitz immer mehr an ein Reservat erinnert, pulsiert das Leben hinter bröckelnden Fassaden in Zgorzelec. In Görlitz gibt es zwar breite und schöne Straßen wie auch saubere Parks, aber in Zgorzelec hängt an jeder Ecke ein Schild einer kleinen Firma, die oft von der Familie geführt wird. Die Arbeitslosenrate in Zgorzelec beträgt 13 Prozent und in Görlitz ist sie fast doppelt so hoch. Das Durchschnittsalter der Bewohner von Zgorzelec beläuft sich auf 35 Jahre und in Görlitz auf über 43 Jahre.

"Wenn uns nur ein Bruchteil von der Milliarde DM zur Verfügung stünde, die unsere Nachbarn in den letzten Jahren von ihrer Regierung bekommen haben, würden wir auch zeigen, was wir wirklich können", überzeugt Bürgermeister Fiedorowicz. Der Bürgermeister von Görlitz gibt zu, dass zwar in den letzten zehn Jahren die Gebäude und Straßen in Görlitz saniert wurden, aber es ist nicht gelungen, die Wirtschaft in der Region zu beleben.

"Vorsicht, eine Reisegruppe aus Polen ist gekommen. Alles verstecken", haben noch vor kurzem deutsche Geschäftsinhaber in Görlitz durch Megaphone gewarnt. Heute sind viele Aufschriften auf Polnisch sichtbar nach dem Motto "Wie gut, dass du da bist". Es ist auch nicht verwunderlich, da ohne polnische Kunden die Mehrheit der Geschäfte leer stehen würde. In vielen Läden machen unsere Landsleute 70 Prozent des Umsatzes. Lutz Tschope, Leiter der Firma Quelle, gibt zu, dass, wenn es die Polen nicht gäbe, er gezwungen wäre, sein Geschäft in Görlitz zu schließen. Immer mehr Geschäfte und Restaurants entscheiden sich dafür, Polen zu beschäftigen, weil sie neue Kundschaft anziehen. Der Inhaber von "Pico Bello" z.B. hat Monika Gebala aus Zgorzelec beschäftigt, weil ihre deutsche Vorgängerin die polnische Kundschaft abgeschreckt hat, indem sie sie um 24 Uhr aus dem Restaurant vertrieb. Jetzt gehört das Lokal zu den beliebtesten Orten, in denen sich die polnischen Bewohner von Görlitz treffen. Ihre Präsenz in dieser Stadt trägt dazu bei, dass sich - außer den Laden- und Restaurantbesitzern – auch Ärzte und Anwälte für das Erlernen der polnischen Sprache interessieren. Andrzej L. aus Schlesien, der zwei Pässe hat, ist oft Kunde der hiesigen Notare: Er kauft die verlassenen Häuser in der Altstadt auf.

Viele polnische Geschäftsleute ziehen es vor, auf der deutschen Seite der Grenze zu wohnen, weil die Stadt gepflegt und sicherer ist. Obwohl es hier ein wenig teuerer ist als auf der polnischen Seite (...).

In Görlitz gibt es praktisch keine Industrie mehr. Das Bergwerk, die Elektrizitätswerke und der optische Betrieb wurden geschlossen. Auf der polnischen Seite hingegen sind im Bergbau und in der Energieindustrie immer noch 10 000 Menschen beschäftigt. Die Einkommen auf beiden Seiten der Grenze gleichen sich jedoch an. In Zgorzelec beträgt das Durchschnittseinkommen 2 500 Zloty, in Görlitz über 800 Euro, d.h. etwa 3 000 Zloty. Was wird jedoch in zehn Jahren geschehen?, fragen sich viele Bewohner von Görlitz. Werden die schöne Renaissance-Häuser und die modernen Wohnungen immer noch leer stehen?

"Wir können lediglich eine Strategie erarbeiten, um dem entgegenzuwirken", erklärt Bürgermeister Grossmann. Er gibt jedoch gleichzeitig zu, dass, falls es zu einem Mißerfolg käme, Görlitz an ein Potemkinsches Dorf erinnern würde – zwar mit schönen Fassaden, hinter denen es aber kein Leben gibt. "Wir wollen und müssen diese Stadt beleben, versichert Bürgermeister Grossmann

Dariusz Kowalak versucht die Behörden von Görlitz zu überzeugen, mutigere Entscheidungen zu treffen. "Wir sollten Risiken eingehen. Die Macht soll der freie Markt übernehmen. Wir sollten die strengen Gesetze lockern. Ich bin sicher, dass dann neue Arbeitsplätze entstehen werden", schlägt Dariusz Kowalak vor.

"Wir sind zum Zusammensein verurteilt. Je früher uns das bewußt wird, desto besser. Davon werden doch sowohl die Polen als auch die Deutschen profitieren", betont Bürgermeister Fiedorowicz." (Sta)