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„Ehrenmord“ in Albanien

6. Januar 2005

Albanien nach der Öffnung aus jahrzehntelanger Isolation: Ein Land zwischen patriarchaler Tradition und westlicher Moderne. Der Umbruch führt zu Konflikten zwischen den Generationen, die im Extremfall tödlich enden.

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Albaner lesen TodesanzeigenBild: AP

Rudina wurde 16 Jahre alt. Ihr Vater hatte sie einem albanischen Mann in London versprochen. Eines Nachts stieg Rudina vor ihrer Haustür in dem Dorf Berxull aus einem Auto, hinter dem Steuer saß ein junger Mann. Der Vater Ruzhdi Qinami tötete Rudina mit einer Kalaschnikow. Um die die Ehre der Familie zu retten. Rudinas Vater wurde wegen Totschlags zu neun Monaten Haft verurteilt.

Die albanischen Medien reagierten mit einem Aufschrei auf den "Fall Berxull". Seitdem lebt die Familie zurückgezogen. Nur Ruzhdi Qinamis Bruder Shpetim ist nach langem Zögern bereit, über den Mord zu sprechen. Den Zustand seines Bruders beschreibt er so: "Er leidet sehr. Die Natur bestraft ihn jetzt. Was kann ich noch sagen." Aber der früh gealterte Shpetim sagt auch: "Kein Vater bringt seine Tochter um."

Probleme mit der neuen Freiheit

Es ist ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne: Nach dem Zerfall des Kommunismus sind viele Familien aus dem ländlichen Norden in die urbanen Gebiete im Süden gezogen. So auch die Familie Qinami, die in das Dorf Berxull in der Nähe von Tirana kam.

Der Ortswechsel sei für viele wie das Betreten eines neuen Landes gewesen, meint Eglantina Gjermeni, Professorin der Sozialwissenschaften an der Universität Tirana: "Die Siedler aus dem Norden kommen nach Tirana, um ein besseres Leben zu führen, aber sie hätten nie gedacht, dass sie so eine 'zügellose' Freiheit finden würden. Sie können sich mit dieser Realität nicht anfreunden. Sie sind anderes gewöhnt, haben anders gelebt."

Die neue Freiheit, die mit dem Ende der Isolation Albaniens kam und bisher vor allem im urbanen Süden spürbar ist, rüttelt an den Grundfesten der patriarchalen Tradition. Für das Oberhaupt der Familie bedeutet die neue Zeit, in der die Kinder - gerade die Töchter - andere Wege einschlagen wollen, den Verlust seiner Dominanz.

"Wer dich knüppelt, liebt dich"

Die Psychologin Elida Rrapti hat sich mit dem Fall "Berxull" intensiv beschäftigt und schreibt nun über die Veränderungen in der albanischen Familie ein Buch: "Im Fall hat der Vater den Ort gewechselt, aber nicht seine Lebensansicht. Um zu überleben, muss er die Tochter arbeiten lassen. Der Vater will aber weiter mit männlicher Gewalt die Familie beherrschen, während die Tochter versteht, dass sie selbstständig sein kann. Hinzu kommt, dass der Vater nicht will, dass die Tochter etwas von ihrer Weiblichkeit zeigt."

Das Bild in Tirana und anderen albanischen Städten prägen selbstsichere Frauen mit tiefem Dekolleté und in Minirock. Zu viel Nacktheit - klagen die Älteren. Auch dieser Pensionär kommt mit der neuen Wirklichkeit nicht klar: "Die Nacktheit stört uns sehr, weil wir anderes gewohnt sind. Diese Zeit ist nicht mehr unsere Welt. Wir dulden das nicht. Du erziehst das Kind - und das fragt dich nicht mehr, sondern macht einfach, was es will. Wir haben dich großgezogen und wir zeigen dir, wo der Weg langgeht - und du musst gehorchen! Wir haben Verantwortung!"

Das patriarchale Erbe, legitimiert sogar die Gewalt in der Familie. Ein altes albanisches Sprichwort besagt - Zitat: "Wer dich knüppelt, liebt dich".

Gewalt trifft vor allem Frauen

Nach Angaben des Albanischen Frauenzentrums in Tirana ist die Zahl der Verbrechen innerhalb der Familie, die aus Konflikten zwischen den Generationen hervorgegangen sind, in den letzten Jahren gestiegen. Zwischen den Generationen heißt aber oft: zwischen Vätern und ihren Töchtern. Denn Söhnen würden die neuen Freiheiten erlaubt, während sie den Mädchen verboten seien, sagt die Soziologin Eglantina Gjermeni, die das Frauenzentrum leitet: "Neue Modelle im Verhalten und in der Lebens-Einstellung zeigen auch die jungen albanischen Männer - aber sie dürfen das, weil sie ja Männer sind. Das hat mit unserer Mentalität zu tun. Man sagt ja: Er ist schließlich ein Mann und kann machen, was er will."

Und die Tochter ist wie ein Glas - sagen die Älteren in Albanien. Wenn es zerbrochen wird, wird es nicht mehr zusammengefügt.

Zamira ist 25 Jahre alt, lebt in einem der wenigen Frauenhäuser in Albanien. In einigen Wochen wird sie ein Kind zur Welt bringen. Sie ist schwanger und unverheiratet. Das ist ihre "Schande" - und für ihre Eltern der Grund, um sie zu verstoßen. Zamira erzählt: "Mein Vater sagte, für ihn bin ich gestorben. Ich möchte aber dieses Kind behalten. Meine Eltern haben mich verstoßen, weil ich keinen Ring am Finger habe."

Es ist eine Zeit in Albanien, in der Tabus gebrochen werden. Der Generationen-Konflikt, meint der junge albanische Schriftsteller Agron Tufa, habe vor allem mit der Enttabuisierung der Frau zu tun: "Das starke Tabu in dem Empfinden der Frau wird gebrochen. Für die Älteren beginnt und endet die Moral mit der Frau. Für die junge Generation ist gerade diese neue Weltsicht ein Zeichen von Zivilisiertheit."

Lindita Arapi, DW-RADIO / Albanisch, 5.1.2005