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Gesellschaft

Zuflucht für alte Frauen in Indien

Martina Merten
24. Januar 2018

Alt werden in Indien kann hart sein, besonders für betagte alleinstehende oder verwitwete Frauen. Ein deutsches Ehepaar wollte helfen. Das Ergebnis: ein Altersheim für Frauen in Tamil Nadu.

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Altersheim "Haus ohne Angst" in Indien
Bild: Benjamin Füglister

Chitra hat ihr graues Haar streng im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Ihre Haut ist für ihr Alter relativ glatt. Die 67-Jährige trägt einen dunkelroten, einfachen Sari. Ihr Gesichtsausdruck hat etwas Forderndes. Gleichzeitig lässt er eine gewisse Verwirrtheit erkennen.  Chitra ist eine von acht Frauen im Abhaya Sadan, dem "Haus ohne Angst." Sie ist eine von Millionen älteren indischen Frauen, die durch den Verlust von Familie vor dem Nichts stehen. Aber sie zählt zu den wenigen, die jetzt das Glück haben, dem Nichts zu entfliehen. Im Abhaya Sadan, einem kleinen Altersheim in der Stadt Coimbatore im süd-indischen Bundesstaat Tamil Nadu.

Altersheim "Haus ohne Angst" in Indien
Endlich der Einsamkeit entkommen, im "Haus ohne Angst" Bild: Benjamin Füglister

Exemplarisches Schicksal

Das Leben von Chitra verlief erst einmal gar nicht so schlecht. Sie heiratete. Gebar einen Sohn. Für einen Inderin eine größere Sicherheit als eine Tochter. Denn Frauen bleiben in der Regel bei ihren Söhnen. So will es die Kultur. Töchter dagegen lassen sie gehen. Chitra lebte mit ihrem Sohn und der Schwiegertochter unter einem Dach. Mit der wachsenden Zahl an Enkeln gerieten sie und ihre Schwiegertochter immer häufiger aneinander. Während eines besonders schlimmen Streits brach die Schwiegertochter Chitra das Handgelenk. Der Sohn stand nur wortlos daneben. Er hatte zu trinken begonnen. Er half der Mutter nicht. Chitra erzählt ihre Geschichte bruchstückhaft. Teile muss man sich dazu denken. Einiges lässt sie aus oder will es auslassen. Was bleibt von ihrer Geschichte, ist ein Gefühl der großen Traurigkeit. Sie weint zwischendurch. Dann wieder beginnt sie zu lachen. Es ist dieses wirre Lachen.  

Wie die anderen Frauen im Haus ohne Angst stand sie irgendwann alleine da. Hatte kein Geld. Keine Sicherheit. Keine Familie mehr um sich. Es war ein Moment voller Angst vor der Zukunft. Und voller Schmerz über die Vergangenheit.

Altersheim "Haus ohne Angst" in Indien
Das "Haus ohne Angst" bietet Zuflucht für wenige, der Bedarf in Indien wächst beständigBild: Benjamin Füglister

Familienstrukturen im Wandel

Das Altersheim in Coimbatore ist eines von wenigen auf dem Subkontinent. Die 214.000 Menschen, die derzeit nach Angaben der indischen NGO HelpAgeIndia in einem Altersheim untergebracht sind, repräsentieren nur einen Bruchteil der drastisch steigenden Zahl alter und betagter Menschen in Indien. Beinahe zehn Prozent der Gesellschaft haben schon heute die 60-plus erreicht. Bis 2050 werden es laut dem All India Institute of Medical Sciences (AIIMS) 320 Millionen Menschen sein. Was früher die Ursprungsfamilie oder die erweiterte Großfamilie übernommen haben, die Betreuung der Alten, breche heute zunehmend auseinander, sagt Sri Hedge Shreenath Hedge, der Leiter eines anderen Altersheimes in Südindien. Viele Alte stehen plötzlich alleine da, ohne irgendetwas.  Wenn dann noch der Mann als Hauptversorger stirbt, wird es schwer.

Altersheim "Haus ohne Angst" in Indien
Das "Haus ohne Angst" mit der Autorin und den Bewohnerinnen Bild: Benjamin Füglister

Hilfe aus Bonn

Doris und Anton Drähne wollten helfen. Das Ärzteehepaar aus Bonn hat viel im afrikanischen und asiatischen Ausland gearbeitet. Es wusste um viele der Herausforderungen, vor denen Entwicklungs- und auch Schwellenländer stehen. Sie fanden 2016 mit Hilfe der Karl Kuebel-Stiftung für Kind und Familie ein kleines Haus in Coimbatore, das sich als Altenheim eignete. Die Federführung für das Projekt übernahm eine in der Region sehr aktive NGO, der Native Medicare Charitable Trust.

Nachmittags sitzen alle Frauen in einem Stuhlkreis. Jede erzählt ein wenig von sich. Vom Sohn, der sich nicht mehr kümmern wollte. Vom Ehemann, der eine andere Frauen kennenlernte und das einzige Kind mitnahm. Vom Leben mit dem Enkel, der, als sie krank wurde, kein Geld mehr hatte, sich weiter zu kümmern. Vom Leben mit der Schwiegertochter, die nicht nett war und ihr kein Essen gab. „Indien ist kein Land für alte Menschen", bringt es Matthew Cherian, Geschäftsführer von HelpAgeIndia auf den Punkt. Die Angst, gerade der Frauen, vor dem Nichts ist groß. Viele versuchen so lange wie möglich irgendwie etwas dazuzuverdienen. In ländlichen Gegenden arbeiten noch 66 Prozent der alten Männer und beinahe 30 Prozent der Frauen. So etwas wie eine Altersrente gibt es nicht.

Eine Frau fängt unvermittelt an zu weinen. Die Schmerzen in ihrem Rücken, sagt sie, sie gingen einfach nicht weg. "Ich will so gerne arbeiten", sagt sie. Die Frau ist jenseits der 80. Sie sitzt gekrümmt auf ihrem Plastikstuhl.

Doris und Anton Drähne
Das Bonner Ehepaar Doris und Anton Drähne ermöglichte das Altersheim in Tamil Nadu Bild: privat

Glück am Lebensende

Doris und Anton Drähne wollen das "Haus ohne Angst" weiter unterstützen. Mit wenig Geld könne man so viel in Indien erreichen, beschreibt die Ärztin ihre Hauptmotivation. Kurz nach der Eröffnung reisten sie und ihr Mann nach Coimbatore. Sie wollten sich vor Ort ein Bild von dem Altersheim machen, sehen, ob alles auch seinen Gang nimmt. Doris Drähne fragte eine der Bewohnerinnen am Ende ihres Besuchs, was denn die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen sei. Die Frau antwortete ohne zu zögern: "Das jetzt ist meine glücklichste Zeit."