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"Ein krankes Land"

23. Juni 2003

Wirtschaftsmisere, Finanzaffären und ein Pädophilie-Skandal: Portugal wird von einer beispiellosen Serie von Krisen heimgesucht.

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Portugals Sozialisten-Chef Eduardo Ferro Rodrigues auf dem Weg zum VerhörBild: AP

An deutlichen Worten fehlt es in Portugal zur Zeit nicht: "Das Land durchlebt die schlimmste Zeit seit der Rückkehr zur Demokratie vor 29 Jahren", meint etwa der Kolumnist Antonio Mega Ferreira. Die Krisenserie begann damit, dass vor gut zwei Jahren die damalige Regierung der Sozialisten das Haushaltsdefizit nicht in den Griff bekam, sich Ärger mit der Europäischen Union in Brüssel einhandelte und schließlich abgewählt wurde.

Wirtschaftliche und moralische Krise

Das Mitte-Rechts-Kabinett unter Premierminister Jose Durao Barroso, das das Land seit gut einem Jahr regiert, zeigt aber nun auch schon Spuren von Verschleiß. Es machte sich mit einer eisernen Sparpolitik bei vielen Portugiesen unbeliebt. Die Konjunktur sackte ab, und Portugal geriet als erstes EU-Land in die Rezession. Verteidigungsminister Paulo Portas wird seit Monaten mit einer Finanzaffäre in Verbindung gebracht, bei der es um Betrug, Steuerhinterziehung und finstere Geschäfte geht.

Aber die eigentliche Krise begann im November 2002, als aufgedeckt wurde, dass in staatlichen Kinderheimen in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte von Jungen und Mädchen sexuell missbraucht wurden. Seither kommen immer neue Details ans Licht, die an Widerwärtigkeit kaum zu übertreffen sind und die Nation in immer tiefere Abgründe führen. Die Kinderschänder vergingen sich vornehmlich an Taubstummen und Waisen, weil diese Kinder besonders schutzlos waren.

Zurück zur Melancholie

Der Pädophilie-Skandal wühlt die Öffentlichkeit in Portugal ähnlich auf, wie dies in Belgien in den 90er Jahren beim Skandal um den mutmaßlichen Kinderschänder Marc Dutroux der Fall war. "Unter den Portugiesen herrscht ein Klima tiefer moralischer Depression", schreibt das Nachrichtenmagazin "Visao". Der Kolumnist Edgar Correia ergänzt: "Portugal ist ein krankes Land."

Die Wirtschaftskrise und die Skandale haben die Stimmung in der portugiesischen Bevölkerung radikal verändert. Vor fünf Jahren war das Land am Rande Europas noch von einer Welle der Euphorie erfasst worden. Portugal hatte mit Bravour die Kriterien für die Einführung des Euro erfüllt. Die Wirtschaft blühte, Portugal veranstaltete eine Weltausstellung und errichtete imposante Bauwerke, darunter die längste Brücke Europas, Portugal wurde die Fußball-Europameisterschaft 2004 zugesprochen. Die Portugiesen, denen ein Hang zur Melancholie nachgesagt wird, schienen plötzlich ein Volk von Optimisten geworden zu sein.

Pädophile mit höchstem Ansehen?

Nun scheinen - dem Klischee von der portugiesischen "saudade" (Wehmut) entsprechend - Traurigkeit und Schwermut zurückgekehrt zu sein. Der Schock des Pädophilie-Skandal sitzt vor allem deshalb tief, weil die Täter nicht in Kreisen von Kriminellen und Psychopathen gesucht werden, sondern unter Leuten, die höchstes Ansehen genossen. Unter den Verdächtigen sind ein angesehener Ex-Botschafter, Portugals beliebtester Fernsehstar und der frühere Arbeitsminister Paulo Pedroseo, der mit seinen 38 Jahren zu den Hoffnungsträgern der Sozialisten zählte. Sie alle beteuern ihre Unschuld, wurden aber in Untersuchungshaft genommen. Die Ermittler ließen sogar das Telefon des Parteichefs der Sozialisten, Eduardo Ferro Rodrigues, abhören.

Die Portugiesen wissen bei all den Enthüllungen nicht mehr, wem und was sie glauben sollen. Wenn die Vorwürfe sich als wahr herausstellen sollten, müsste das Land damit leben, dass Persönlichkeiten, denen die Öffentlichkeit vertraut hatte, in Wirklichkeit Kinderschänder waren. Die andere Möglichkeit ist, dass die Justiz sich mit ihren Ermittlungen maßlos verrannt hat. Wer will dann noch den Gerichten vertrauen? "Dieser Skandal lässt die Grundlagen der Republik erzittern", schreibt die Zeitung "Publico". (dpa)