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Politik

Ein kritisches Gedächtnis für Russland

Roman Goncharenko
28. Juli 2017

Eine neue Institution auf europäischer Ebene soll Menschenrechtsverstöße in Russland festhalten, fordert Ex-Diplomat Ernst-Jörg von Studnitz. Das Vorbild: Die einstige "Zentrale Erfassungsstelle" für DDR-Unrecht.

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Boris Nemzow Mord Jahrestag
Improvisierte Gedenkstätte für den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow Bild: picture-alliance/dpa/M. Japaridze

In Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen deutlich angespannt ist, scheint eine Initiative, die Moskau als eine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten interpretieren dürfte, ungewöhnlich zu sein. Aber genau das schlägt Ernst-Jörg von Studnitz vor. Der Ehrenvorsitzende des Deutsch-Russischen Forums und ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau plädierte Mitte Juli in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" für die Schaffung einer Dokumentationsstelle, die Beweise von Menschenrechtsverletzungen in Russland sammeln soll. Die einstige "Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltung" in Salzgitter könne als Vorbild dienen.

Ernst-Jörg von Studnitz
Ex-Diplomat Ernst-Jörg von StudnitzBild: picture alliance/Sascha Radke

Vorbild aus Salzgitter

Die Behörde im niedersächsischen Salzgitter wurde 1961 eingerichtet. Ihre Anwälte sammelten unter anderem Beweise für Schießbefehle an der innerdeutschen Grenze, Fälle politischer Verfolgung oder Misshandlungen im DDR-Strafvollzug. Nach eigenen Angaben wurden rund 40.000 Fälle dokumentiert. Die Dokumente dienten nach 1990 im vereinten Deutschland als Beweismaterial in Gerichtsprozessen. Auch im Fall Russland sollen die Akten dem Land zur Verfügung gestellt werden, sagt von Studnitz.

Doch eine neue Behörde könnte nicht nur in der Zukunft, sondern bereits jetzt eine Rolle spielen. "Wenn Menschen wissen, dass Unrecht festgehalten wird und ihnen vielleicht irgendwann vorgehalten wird, dann führt es dazu, dass sie vermutlich etwas weniger brutal und rücksichtslos agieren", hofft der Ex-Diplomat.

Bei seinem Vorschlag habe er an keine konkreten Fälle gedacht, sagt von Studnitz. Menschenrechtsverletzungen gebe es im heutigen Russland genug - ob Misshandlungen von Rekruten in der Armee oder der jüngste Prozess um die Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow, bei dem die Frage der Auftraggeber unbeantwortet bleibt.

Russland Gedenken an Boris Nemzow
Gedenken an Boris Nemzow: Der Oppositionelle wurde ermordet Bild: picture-alliance/dpa/C. Thaler

Mehr Gewicht auf europäischer Ebene

Von Studnitz sagt, er habe die Idee einer Dokumentationsstelle für Menschenrechtsverletzungen in Russland bewusst auf die europäische Ebene gehoben, weil sie dann mehr Gewicht haben würde. Der Ex-Botschafter glaubt, die Chancen im Europarat wären besser, "weil das eine Institution ist, an der Russland selbst beteiligt ist". Menschenrechte zu wahren ist eine Kernkompetenz dieser Organisation. Allerdings räumt er ein, dass Russland in Straßburg "vermutlich alles unternehmen würde, um das zu verhindern." 

Diese russische Beteiligung am Europarat ist zuletzt kleiner geworden. Nach der Krim-Annexion 2014 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats der russischen Delegation das Stimmrecht entzogen. Daraufhin zog Moskau seine Delegation aus Protest zurück. Das russische Außenministerium teilte im Juni mit, Moskau suspendiere Zahlungen an den Europarat, bis die Stimmrechte der russischen Delegation in vollen Umfang wiederhergestellt werden.   

Vor diesem Hintergrund hat von Studnitz die EU als eine Alternative für die Errichtung einer Dokumentationsstelle erwähnt, weil "diese sich im Lissaboner Vertrag zum Prinzip gemacht hat, für Demokratie und Menschenrechte in Europa einzutreten und zwar nicht nur in der EU selbst."

Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, stand für ein DW-Interview aus Zeitgründen nicht zur Verfügung. Sein Pressesprecher verwies auf eine "schwierige Situation" mit Russland, unter anderem wegen der abwesenden russischen Delegation. "Wir versuchen eine Lösung zu finden", so der Sprecher. Dabei habe der Europarat bereits jetzt die Menschenrechtslage in Russland und anderen Staaten "ausreichend erfasst", unter anderem durch den Menschenrechtskommissar oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR).  

Berlin Bundeskanzleramt Mahnwache gegen Homophobie in Tschetschenien
Mahnwache gegen Homophobie in Tschetschenien Bild: Getty Images/AFP/J. McDougall

Europarat oder EU?

In Expertenkreisen stößt von Studnitz mit seinem Vorschlag durchaus auf Zustimmung. So kann sich Susan Stewart von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vorstellen, dass die Diskriminierung von Homosexuellen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien ein Thema für eine solche Dokumentationsstelle wäre. Russischen Presseberichten zufolge wird diese Minderheit zunehmend verfolgt, was Moskau bestreitet. Deutschland gewährt manchen von ihnen Asyl. Die Aussagen der Geflüchteten könnten von der neuen Stelle dokumentiert werden, ähnlich wie im Fall Salzgitter es Geflüchtete aus der DDR in die BRD taten. Stewart plädiert für einen Ausschluss Russlands aus dem Europarat, "weil es seine Verpflichtungen nicht einhält". Die EU wäre für sie "eine bessere Wahl" für die Einrichtung einer Dokumentationsstelle für Menschenrechte. Allerdings solle die EU auch eigene Demokratiedefizite, wie etwa zuletzt in Polen, angehen.

Peter Schulze leitete in den 1990er Jahren die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in Russland und war Gründungsmitglied der russischen Denkfabrik "Dialog der Zivilisationen" in Berlin. Die EU hätte zwar mehr Möglichkeiten, eine Dokumentationsstelle mit "mehr Zähnen zu versehen", doch er findet den Europarat besser. Beim Europarat könne man auch Russland einbinden. "Es muss eine Institution sein, die Vergehen in allen europäischen Ländern, inklusive Russland und der Ukraine, vielleicht sogar im GUS-Bereich untersucht", sagt Schulze.

Ob Europarat oder EU: Von Studnitz hat keine Angst, dass sein Vorschlag das Verhältnis des Westens zu Russland zusätzlich belasten könnte. Sein Argument: Trotz der Kritik der DDR an Salzgitter habe es westliche Kredite für Ostdeutschland, offizielle Besuche und Verhandlungen über Reiseerleichterungen gegeben. Ähnlich dürfte es mit Russland sein.