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"Ein lächerlicher Skandal"

22. August 2002

- Untersuchungen zum Agentenverdacht gegen Ungarns Ministerpräsidenten abgeschlossen

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Köln, 22.8.2002, DW-radio, Vladimir Müller

Seit Ende Mai, nach dem Wahlsieg der ungarischen Sozialisten, steht an der Spitze der Regierung in Budapest der parteilose Finanzfachmann Péter Medgyessy. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hieß es, Medgyessy habe in den 1970er und 80er Jahren für den kommunistischen Staatssicherheitsdienst gearbeitet. Ein Stasi-Agent an der Spitze des neuen, demokratischen Ungarn? Ein Parlamentsausschuss wurde gebildet, der die Tätigkeit des Ministerpräsidenten durchleuchten sollte. Letzte Woche hat der Ausschuss seine Arbeit abgeschlossen. Vladimir Müller hat recherchiert, was dabei herausgekommen ist:

"Das ist hier in Ungarn ein lächerlicher Skandal, sagt der ungarische Politologe László Kéri zur Affäre des Ministerpräsidenten Péter Medgyessy. Ja, Medgyessy hat in den Jahren 1978-1982 neben seiner Tätigkeit als hoher Beamte im Finanzministerium auch für den Sicherheitsdienst gearbeitet. Es ging dabei aber nicht um Spitzelberichte über andere Personen. Das Finanzministerium stand damals unter dem Einfluss der kommunistischen Reformkräfte und wollte die Öffnung der ungarischen Wirtschaft zum Westen erreichen."

Eine der Aufgaben des damaligen Finanzbeamten und Stasi-Mitarbeiters war zu verhindern, dass der "große Bruder" in Moskau Ungarns Pläne, dem Internationalen Währungsfonds beizutreten, durchkreuzt. Er habe also lediglich die Staatsinteressen verteidigt, gab Medgyessy bei einer Anhörung im Parlamentsausschuss zu Protokoll. Seine Aufgabe endete automatisch 1982 mit Ungarns Beitritt zum Internationalen Währungsfonds. Ist der Fall damit erledigt?

"Es geht hier um viel mehr als nur um die Frage nach der Vergangenheit des Ministerpräsidenten", sagt der Politologe László Kéri. "Es ist ein Problem, das die Vergangenheit der gesamten politischen Elite in Ungarn betrifft: von der Linken bis zur Rechten, von den Oppositions- bis zu den Regierungsparteien."

In der Tat: Die konservative Zeitung "Magyar Nemzet", die die Information über Medgyessys Vergangenheit als erste publik gemacht hat, wollte offensichtlich nach der Wahl den von den erfolgreichen Sozialisten berufenen Ministerpräsidenten zu Fall bringen. Dadurch wurde jedoch eine Lawine in Bewegung gesetzt, die schließlich auch die konservativen Politiker in Budapest mitgerissen hat. Das prominenteste Opfer war der Vorsitzende der bis April regierenden konservativen Fidesz-Partei, Zoltan Pokorni. Er trat von seinen Funktionen zurück, nachdem er erfahren hatte, dass sein eigener Vater ein Spitzel der Staatssicherheit gewesen war.

László Kéri: "Dieser ganze Skandal hat eines klar gezeigt: Es gibt eine viel wichtigere Frage als die nach Verstrickungen oder Verbindungen einzelner zum Staatssicherheitsdienst. Vor allem die Intellektuellen, die politischen Eliten und die Medien haben begonnen, sich ernsthaft mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jetzt - 12 Jahre nach der Wende. Das ist die unerwartete Konsequenz aus der Medgyessy-Affäre. Die verschiedenen politischen Gruppierungen stellen sich selbst die wichtige Frage: Wie bewältigt man die Vergangenheit? Wie geht man mit dem Erbe des 'Kádarismus' um?"

'Kádarismus' - das kommt von János Kádár. Kádár war fast 30 Jahre Parteichef der ungarischen Kommunisten und galt als gemäßigter Reformer des - wie sich später gezeigt hat - nicht reformierbaren Sozialismus sowjetischer Vorprägung. Die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern war in den 1970er und 80er Jahren eines der wichtigsten Ziele der damaligen Regierung: Das Materielle wurde über die Ideologie gestellt, so dass man in diesem Zusammenhang von einem ungarischen "Gulasch-Kommunismus" sprach. Politologe Kéri meint:

"Es war mehr oder weniger entfernt vom sowjetischen Regime, es war keine Diktatur wie in Ost-Deutschland oder in der Tschechoslowakei, es war die Zeit der Reformbemühungen."

Und Leute wie der heutige Ministerpräsident Medgyessy waren eben Exponenten dieser Reformbemühungen. Die rechten Radikalen von heute wollen jedoch nichts von den damaligen Reformen wissen. Für sie seien die 40 Jahre Kommunismus einfach nur eine Ära der Diktatur und alle politisch Handelnden Sklaven des Sowjetsystems gewesen, meint László Kéri. Eine differenziertere Haltung in der ungarischen Gesellschaft setze sich erst jetzt, 12 Jahre nach der Wende, langsam durch.

Die überwiegende Mehrheit der Ungarn steht übrigens dem Streit um die Vergangenheit ihrer politischen Repräsentanz desinteressiert gegenüber. Wie aus Umfragen hervorgeht, sind sie der Meinung, dass die Veröffentlichung der Akte Medgyessy nicht von großer Bedeutung sei und dass der Ministerpräsident im Amt bleiben sollte.

Es ist deshalb zu erwarten, dass auch die noch zu erwartenden Enthüllungen über die Vergangenheit aller Regierungsmitglieder mit Gelassenheit aufgenommen werden. Ein Parlamentsausschuss, der sich ausschließlich mit dieser Frage beschäftigt, hat bereits eine Reihe von Personen identifiziert: Von den 193 Ministern und politischen Staatssekretären der letzten 12 Jahre sollen 16 mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben. Die meisten gehörten nach der Wende den konservativen Regierungen an, also dem Lager, das den Fall Medgyessy erst ins Rollen gebracht hat. (lr)