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Ein Land der Wunder

2. Februar 2004

- Doppelte Staatsangehörigkeit bietet den Einwohnern der Woiwodschaft Oppeln viele Möglichkeiten

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Warschau, 3.1.2004, POLITYKA, poln.

Sonntag Nachmittag. Auf dem Busbahnhof in Opole (Oppeln) warten einige hundert Männer. Ähnlich sieht es auch in Krapkowice aus. Bald werden die Busse der Firmen Sindbad und Ottokar und einige kleinere Busse vorfahren. Letzte Zigarette, letzter Witz vor der Reise. Es gibt viele solche Sammelplätze in der Region Opole.

Konrad Mroz reist seit vier Jahren. Er arbeitet in Duisburg: "Jetzt gibt es keine Arbeit in Opole. Jeder aus unserem Dorf fährt dahin: Maler, Maurer. Viele arbeiten bei Mercedes oder BMW", sagt er. (...)

An der Autobahn, die nach Gliwice (Gleiwitz) führt, gibt es keine Informationstafeln, die auf die Grenze der Woiwodschaft Opole hinweisen. Dass man sich schon hier befindet, kann man den bunten Tafeln entnehmen mit der Aufschrift " Arbeit in Holland Tel..." oder "Arbeit in der EU, Tel...". Dies bedeutet, dass wir uns in dem Land befinden, in dem die Einwohner zwei Pässe haben.

Die Einwohner des größten Teils der Woiwodschaft Opole genießen seit den neunziger Jahren das Privileg eines zweiten Passes, d. h. sie dürfen gleichzeitig den polnischen wie auch den deutschen Pass besitzen, der ihnen erlaubt, legal in den Staaten der Europäischen Union zu arbeiten. Ein Fachmann wie ein Maurer oder Schweißer kann sogar 7,50 bis 8 Euro pro Arbeitsstunde verdienen und im Akkord sogar zehn Euro. Am meisten werden Leute gesucht, die einfache körperliche Tätigkeiten verrichten auf dem Bau, in den Großmärkten, in den Supermärkten .(...) Es fahren also Männer und in letzter Zeit immer öfter auch Frauen zur Arbeit und zwar hauptsächlich nach Deutschland aber auch nach Holland, das immer attraktiver wird. In der Nähe von Rotterdam beträgt der minimale Stundenlohn 6,45 Euro.

"Schon über 100 000 Menschen fahren ständig zur Arbeit ins Ausland" erklärt mit Sorge Dorota Simnides, Senatsabgeordnete aus der Woiwodschaft Opole. Diese Angaben werden von Professor Robert Rauzinski, einem Demographen vom Schlesischen Institut bestätig. 1988 hielten sich 54 000 Einwohner der Woiwodschaft Opole über zwei Monate im Ausland auf, im Jahre 1995 waren es 77 000 und jetzt sind es 108 000! Dies bedeutet, dass jeder zehnte Bewohner der Region Oppeln im Ausland arbeitet.

"Wir haben etwas übersehen", gibt der Abgeordnete Henryk Kroll, eine der wichtigsten Personen bei der deutschen Minderheit zu. Am Anfang betrachteten die Vertreter der deutschen Minderheit die Möglichkeit, zwei Pässe zu besitzen, als einen historischen Sieg. Sie dachten, dass die Schlesier aus der Region Opole nach Deutschland reisen werden, um zu arbeiten, um die Sprache zu lernen und dass sie das dort verdiente Geld in eigene Geschäfte in der Heimat investieren werden.

Ein Journalist aus Opole erzählt: "Das hat schon in der späteren Zeit der Regierung Rakowski begonnen (Ende der 90er Jahre – M.D). Nach drei Monaten kehrte ein ‚Gastarbeiter‘ mit 2 000 DM zurück. Das war viel Geld! Ein Monatslohn in Deutschland entsprach 65 polnischen Durchschnittslohnen. Heute entspricht er nur fünf. Trotzdem mangelt es weiterhin nicht an Freiwilligen".

Die Gelegenheit, in Deutschland zu arbeiten, nahmen bisher über 300 000 Schlesier aus der Region Opole wahr. "Das entzog sich jeglicher Kontrolle" sagt der Abgeordnete Kroll. Er ist traurig, weil die doppelte Staatsbürgerschaft heute nichts anderes mehr bedeutet als die Berechtigung, in den Ländern des Schengener Abkommens eine legale Arbeitstelle zu bekommen.

Dabei handelt es sich um irgendeine Arbeit. Früher, wenn ein Mauer zur Arbeit fuhr, dann wollte er als Maurer arbeiten. Heute ist jede einfache Arbeit gut genug, weil es zu Hause an Arbeit mangelt. (...)

"Die Wirtschaft in der Region Opole wird vom Insolvenzverwalter betrieben", schrieb eine lokale Zeitung und dies entspricht der Wahrheit: 56 Spitzenbetriebe dieser Region mussten Insolvenz anmelden. (...) Beim Wirtschaftsgericht in Opole warten weitere 90 Insolvenzanträge auf Bearbeitung (...)

Von dieser wirtschaftlichen Apokalypse ist in den Dörfern der Region aber nichts zu spüren. In den Gemeinden, in denen die "Einheimischen" leben, sieht man schöne und gerade Bürgersteige, gepflegte Häuser und Höfe (...) Vor jedem Haus ein oder zwei Autos. "Die deutschen Dörfer können sich mit uns nicht messen", sagte Dieter Dalla aus dem Dorf Krosnica, das als das schönste in der ganzen Region gilt ...

Die Gemeinden, in denen die Bewohner zwei Pässe haben, bilden die "Region Opole A". Die zweitklassige Region d. h. "Region Opole B" beginnt irgendwo hinter der Ortschaft Niemodlin. Hier verläuft eine unsichtbare Grenze, die den Kreis Prudnik in zwei Abschnitte teilt. Auf der einen Seite die arme polnische Stadt Prudnik, auf der anderen die reiche "deutsche" Stadt Gloglwek. Die Arbeitslosenquote in Nysa beträgt 30 Prozent, in Krapkowice 13 Prozent. (...)

"Das sind zwei verschiedene Welten", sagt Dr. Romuald Jonczy, ein Wirtschaftsexperte von der Universität Opole und fügt hinzu: "Die Arbeitslosenrate in den 37 Gemeinden, die von ‚Einheimischen‘ bewohnt werden, gehört zu den niedrigsten in Polen und beträgt etwa sechs Prozent. Aber man muss die Statistiken aus der Region Opole anders betrachten als die des restlichen Polen. Durch die Tatsache, dass so viele Personen im Ausland arbeiten, gibt es in Polen keine andere Region, in der es eine so große Zahl von Menschen gibt, die weder arbeiten noch arbeitslos gemeldet sind. Das heißt, diese Leute arbeiten, aber im Ausland oder sie leben davon, was die Familienmitglieder im Ausland verdienen".

Es gibt noch ein weiteres Wunder in der Region Opole: Aus den Untersuchungen geht hervor, dass in dieser Woiwodschaft 90 000 Menschen fehlen. Das sind Schlesier, die zu der sogenannten "Schwebe-Immigration" gehören, d. h. diese Menschen sind nach Deutschland ausgereist, haben sich aber in Polen nicht abgemeldet. Aus diesem Grunde muss man die offiziellen Angaben über die wirkliche Bevölkerungszahl in dieser Woiwodschaft um etwa acht Prozent bis auf etwa eine Million Einwohner reduzieren.

Und jetzt kommt das größte Wunder: Die offiziellen Statistiken besagen, dass die Woiwodschaft Opole in Bezug auf das Einkommen der Familien den zehnten Platz in Polen belegt. Aber die Schlesier bringen in die Region Opole etwa eine halbe Milliarde Euro im Jahr, d. h. über zwei Milliarden Zloty. In den Gemeinden, in denen die Einheimischen leben, macht dieses ein zusätzliches Monatseinkommen von 540 Zloty aus. Demnach ergibt sich, dass die Woiwodschaft Opole den ersten Platz in Polen belegt. Das im Ausland verdiente Geld wird jedoch nur in das investiert, was man sieht, d. h. in Häuser, Fenster, Autos und Pflaster vor den Häusern.

"Es ist doch gut, dass sie Arbeit und Geld haben", sagt Piotr Solloch, der Bürgermeister von Krapkowice und fügt hinzu: Das ist aber keine Lösung für die breite Perspektive. Die Gemeinde hat nichts davon, weil sie keine Steuern zahlen. Ihre Familien nehmen jedoch sowohl die Schulen und Kindergärten als auch das Gesundheitswesen in Anspruch". (...) (Sta)