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"Ein Land ohne Führungsqualitäten"

20. September 2005

Die internationalen Medien fordern rasche politische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit für Deutschland. DW-WORLD mit einem Panorama von Pressestimmen aus dem Ausland

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Bild: Bilderbox

"La Repubblica" (Rom): Ein Volk, keine Nation

"Das 'große Deutschland' hat noch nicht entschieden, was es machen will, wenn es groß ist. Die Patt-Situation nach der Wahl spiegelt die Unsicherheiten eines Landes ohne klaren Plan wider. Da kommt einem das schneidende Urteil von General (Charles) de Gaulle über die Nachbarn jenseits des Rheins wieder in den Sinn: Ein Volk, keine Nation. Sicher, es handelt sich auch um das (zahlenmäßig) größte der europäischen Völker, das über eine Wirtschaft von globalen Ausmaßen und ein beneidenswertes kulturelles Erbe verfügt. Aber es ist auch unfähig, die Schattenlinie, die die wirtschaftliche Machtposition vom geopolitischen Einfluss trennt, zu überschreiten, ebenso wie es unfähig ist, den Schritt von der schwierigen Suche nach Identität zu einem reifen Selbstbewusstsein zu tun. Ein Land ohne Führungsqualitäten eben."

"Iswestija" (Moskau): Wieder nur Frau Merkel

"Die Christdemokraten stehen unter Schock. Man musste nur ihre Reaktion auf die ersten Ergebnisse sehen, um das zu begreifen. Erloschene Augen, verzweifelte Gesichter, flauer Beifall, mit dem das Publikum Angela Merkel empfing. Dabei hatten ihr kurz zuvor noch überfüllte Säle begeistert zugejubelt. Und der Sprecher hatte die Vorsitzende der CDU immer als 'die künftige Bundeskanzlerin' angekündigt. Auf einmal ist sie wieder nur Frau Merkel."

"Magyar Nemzet" (Budapest): Unnatürliche Koalition würde beunruhigen

"In seiner derzeitigen Situation kann sich Deutschland kaum eine Regierung erlauben, der die Hände gebunden sind. Aber auch für Europa ist es nicht gut, wenn eine seiner Lokomotiven einem Riesen in Ketten gleicht. Ein wirtschaftlich starkes, effizientes Deutschland, das das Programm eines gemeinsamen Europas zu verteidigen vermag, brauchen auch die angrenzenden Länder und die übrige Welt. Die Aussicht auf eine unnatürliche Koalition würde deshalb gleichfalls einen jeden in der Region beunruhigen."

"Liberation" (Paris): Nüchterne deutsche Politik ist sexy geworden

"Das Abwandern von Stimmen zu den Rändern des politischen Spektrums hat sich in Grenzen gehalten. Die Wähler haben fast eine große Koalition eingesetzt, also eine 'Kohabitation' auf deutsche Art - eine sicherlich etwas heikle Angelegenheit, die aber mit einem festen Vertrag gesichert würde. Und welcher Karpfen wird jetzt welches Kaninchen ehelichen können? Alle möglichen arithmetischen Kombinationen sind vorstellbar, bergen allerdings auch die Gefahr einer unschlüssigen Regierung und damit indirekt das Risiko, die Demokratie in Misskredit zu bringen. Trotz allem ist die nüchterne deutsche Politik erstmals seit langer Zeit und auf eine Weise, die nicht absehbar gewesen ist, jetzt sexy geworden."

"Financial Times" (London): Wieder Schwung in die Wirtschaft bringen

"Die wichtigsten Themen jedes Koalitionsprogramms sind klar: Verringerung der Arbeitslosigkeit, Ankurbelung des Wirtschaftswachstums, Begrenzung des Haushaltsdefizits, Reform des Steuersystems, des Arbeitsmarkts, der Rentengesetzgebung und des Gesundheitswesens. (...) Unterschiede in der Außenpolitik wie etwa die Differenzen zwischen CDU und SPD in der Frage des EU-Beitritts der Türkei, in der Haltung zum Irakkrieg und in den Beziehungen zu den USA sind sekundär. Das wichtigste ist, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für den Rest der EU. Daran wird jede neue Koalition in Deutschland gemessen."

"Basler Zeitung" (Genf): Schröder ist angezählt

"Er (Schröder) hat schlicht verloren. So gesehen, ist sein Auftritt vom Sonntag mit dem Boxer zu vergleichen, der, schon angezählt, ein paar Schwinger in die Luft bohrt. Nein, hier besoff sich einer noch einmal an der Macht, deren Erhalt ihm die unklaren Stimmenverhältnisse vorgaukelten. Aber durch die Tore des Kanzleramts, an denen er einst so verzweifelt wie erfolgreich rüttelte, muss er nun wieder hinaus. Ob die bleiche Angela Merkel es besser kann (und ob man sie auch lässt), ist dann ein anderes Kapitel."

"Der Standard" (Wien): Merkel spürt kein Bob-Marley-Feeling

"Schröder und Merkel, sie brauchen beide noch die richtigen Partner. Diese zu finden, wird nicht leicht sein. Eine große Koalition gönnen sie einander nicht. Also bleiben die Ampel und die Schwampel, die auch den schönen Namen 'Jamaika-Koalition' hat. Aber Merkel spürt so gar kein Bob-Marley-Feeling zurzeit. Sie will einfach nur politisch überleben. Wenn die Gestrandete keine Koalition zustande bringt, sich also nicht in eine Koalition oder bis nach Jamaika retten kann, dann ist sie politisch tot. Das Mitleid vom Obergrünen Joschka Fischer und von FDP-Chef Guido Westerwelle hält sich in Grenzen. Die beiden haben gut lachen: Ihr Preis war selten so hoch wie in diesen Tagen."

"El Pais" (Madrid): Politische Lähmung Europas schreitet voran

"Die Deutschen haben bei der Bundestagswahl einer Reform nach neoliberalem oder angelsächsischen Muster eine Absage erteilt. Nun sucht man nach einem neuen Sozialpakt. Am Ende werden sozioökonomische Reformen herauskommen, die vielleicht etwas langsamer vonstatten gehen, aber bei den Steuergesetzen, den Renten und dem Arbeitsmarkt ausgewogener sein werden. Das Wahlergebnis bedeutet auch, dass Berlin der Türkei die Tür zur EU vorerst nicht verschließen wird, wie die CDU-Chefin Angela Merkel dies vorhatte. Allerdings weist die Bundestagswahl auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Nein der Franzosen zur EU-Verfassung auf. Die politische Lähmung Europas schreitet weiter voran." (ois)