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"Ein Mentalitätswandel ist erforderlich"

Das Interview führte Alexander Kudascheff18. September 2004

Am 6. Oktober wird die Europäische Kommission entscheiden, ob und wann es Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geben wird. Im Interview mit der Deutschen Welle äußerte sich dazu der türkische Ministerpräsident Erdogan.

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Sieht keine größeren Probleme:<br>Ministerpräsident ErdoganBild: AP

DW: Was für ein Gefühl haben Sie? Wie wird der Spruch aus Brüssel ausfallen?

Recep Tayyib Erdogan: Wir tun alles um diesen Prozess positiv zu beeinflussen und die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Probleme, was die Reformgesetze angeht. Als ich Herrn Verheugen bei seinem letzten Besuch gefragt habe, was wir tun können, um diese Gesetze zu erfüllen, hat er mir geantwortet, dass die Türkei schon alles getan habe. Aber in der Umsetzung gibt es noch Mängel. Das wissen wir auch. Denn dafür ist ein Mentalitätswandel erforderlich. Dabei handelt es sich um einen Prozess und wir sind bestrebt, diesen Prozess so schnell wie möglich weiterzuführen.

Nun hat der EU-Kommissar bei seinem Besuch hier Berichte von Menschenrechtsorganisationen vorgelegt, dass hier systematisch gefoltert werde. Ist das ein völlig unberechtigter und vor allem ein unfairer Vorwurf?

Diese Vorwürfe sind auf jeden Fall unberechtigt. Es sind Beschuldigungen, die jeglicher Grundlage entbehren. Unser Ministerium hat auf diese Beschuldigungen hin sofort Ermittlungen angesetzt. Und wir haben auch untersucht, wer diese Beschuldigungen erhoben hat. Es sind leider Äußerungen, die die Schritte behindern, die die Türkei in Richtung Europa macht. Und Verheugen ist sich auch dieser Tatsache bewusst, diesen Eindruck habe ich. Wir vertreten das Null-Toleranz-Prinzip bei der Folter. Systematische Folter ist in einem demokratischen System undenkbar.

Bis jetzt war es in Brüssel ein offenes Geheimnis, dass am 6. Oktober "Ja“ zu Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gesagt wird. Nun ist plötzlich der Streit über das Reformpaket in Sachen Strafrecht dazwischen gekommen. Das ist dann auf Eis gelegt worden. Wie ist denn jetzt eigentlich der Stand der Dinge? Wird es die Strafrechtsreform geben? Und wann vor allem, wird sie zum Gesetz?

Das neue türkische Strafrecht ist nicht Teil der Kopenhagener Kriterien. Genau so ist zum Beispiel sind zum Beispiel der Gesetzesentwurf über die regionalen Berufungsgerichte, die neue Strafprozessordnung oder auch das Strafvollzugsgesetz kein Teil der Kopenhagener Kriterien. Das sind Schritte, die wir als vorbereitende Maßnahmen von unserer Seite in Richtung EU unternehmen. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass es bis jetzt nur eine gemeinsame europäische Verfassung gib. Die EU hat kein gemeinsames Strafrecht. Die Reform unseres Strafgesetzes ist ein Schritt, den wir aus eigenem Antrieb unternehmen. Ich bin überzeugt, das unsere europäischen Freunde dies auch anerkennen werden.

Trotzdem ist besonders umstritten der Paragraph, einer ja nur, aber trotzdem, der Ehebruch unter Strafe stellt. Ist das für Sie unverzichtbar? Oder können Sie einen solchen Paragraphen auch aus dem Reformpaket herausnehmen, wenn Brüssel darauf bestehen sollte?

Dieses neue Gesetz besteht insgesamt aus 346 Paragraphen. Also kann man das nicht so leichthin aus der Ferne beurteilen. Und man sollte die Diskussion nicht allein auf das Thema Ehebruch beschränken. Denn für uns als AKP-Partei sind Traditionen sehr wichtig. Wir vertreten konservative Werte. Diese Prinzipien stehen in unserem Parteiprogramm und in unserer Regierungserklärung. Und das ist auch das Ziel dieses Artikel-Gesetzes. Und das bedeutet den Schutz und die Stärkung der Rolle der Familie. Die Familie ist der dynamischste Faktor der türkischen Gesellschaft. Diesen Gesetzesartikel gab es übrigens schon von 1926 bis 1996. Aber damals war er gegen die Frauen gerichtet. Das neue Gesetz jedoch behandelt, wenn jemand im Fall der Untreue Anzeige erstattet und es eine Verurteilung geben sollte, Mann und Frau gleich. Und das Strafmaß ist angemessen.

Übt Brüssel im Moment zu viel Druck aus?

Man hat mich zu diesem Thema nicht angesprochen. Als Herr Verheugen hier war, habe ich bei unseren Gesprächen ihm folgendes gefragt. Muss die Türkei noch mehr leisten? Er antwortete: Nein. Was allerdings die Umsetzung unserer Reformgesetze angehe, gebe es noch deutliche Mängel. Das aber wissen wir auch. Und wir haben ebenfalls das Thema Ehebruch erörtert. Und Herr Verheugen sagte, dass dieses Thema mit dem Fortschrittsbericht der Kommission nichts zu tun habe. Aber er meinte doch, dass das Thema Ehebruch die Entscheidungen über die Aufnahme von Verhandlungen beeinflussen könnte. Jetzt sollten wir in dieser Diskussion endlich einen Schlusspunkt setzen, finde ich. Es gibt 25 EU-Mitglieder, die nicht alle die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Und trotzdem sind sie Mitglied in der Europäischen Union.

Angela Merkel, die deutsche Oppositionschefin, hat einen Brief an die Parteichefs - und Regierungschefs geschrieben und sich gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ausgesprochen. Ihre Partei, die AK gehört ja eigentlich zur konservativen Parteienfamilie. Sind Sie enttäuscht von Frau Merkel?

Es fällt mir schwer, Frau Merkel zu verstehen. Und sie wirbt für Verständnis bei unseren Gesprächen. In der EU ist eine privilegierte Partnerschaft nicht denkbar. Wer die Kopenhagener Kriterien erfüllt, kann mit Beitrittsverhandlungen beginnen. Es handelt sich hier doch noch nicht um eine Vollmitgliedschaft, sondern um den Beginn der Beitrittsverhandlungen. Daher sollte hier mit einer fairen Entscheidung dieser Prozess der Verhandlungen in Gang gesetzt werden. Sollte dieser Prozess nicht in Gang gesetzt werden, dann werden wir unsere Schlussfolgerungen daraus ziehen und die notwendigen Schritte unternehmen. Ich möchte unterstreichen, dass wir die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien im Interesse unseres eigenen Volkes vorantreiben. Aber sollte es wirklich eine negative Entscheidung geben, was ich nicht glaube, dann werden wir dies als Ankara-Kriterium bezeichnen und auf unserem Weg weitergehen.