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Ein polnisches oder ein gesamteuropäisches Problem?

23. September 2004

- Immer mehr Tschetschenen flüchten nach Polen

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Warschau, 21.9.2004, WIRTUALNA POLSKA, poln.

Seit Anfang des Jahres sind nach Polen fast 4 000 Tschetschenen eingereist. Nach den Geschehnissen in Beslan und der Ankündigung des Kremls über ein scharfes Vorgehen gegen Terroristen kann man erwarten, dass in der nächsten Zeit immer mehr Tschetschenen zu uns kommen. Ist Polen aber imstande, das Problem alleine zu lösen?

Mehr als zehn Tschetschenen wollten bisher innerhalb einer Woche nach Polen einreisen. Am vergangenen Samstag ist aber ein Zug mit hundert tschetschenischen Flüchtlingen in der Grenzstadt Terespol angekommen. Nächste Woche sind weitere Gruppen zu erwarten, weil der Zug, der die Tschetschenen an die polnische Grenze bringt, nur einmal in der Woche fährt. In den Flüchtlingsheimen in Polen gibt es jedoch nur noch 200 freie Plätze.

Bisher hat Polen nur geringe Probleme mit Tschetschenen gehabt, weil die Mehrheit von ihnen illegal nach Deutschland ausreist. Dieses wird jedoch bald ein Ende haben, da die Europäische Union ein neues Gesetz einführte, das erlaubt, alle illegalen Einwanderer nach Polen abzuschieben, die nicht beweisen können, dass sich ihre Familie auf dem Gebiet der EU legal aufhält.

Asyl in Polen ist bisher nur denjenigen Tschetschenen gewährt worden, die beweisen konnten, dass sie selbst verfolgt wurden. Solch eine Interpretation der Menschenrechtskonvention wird jedoch von den Menschenrechtlern in Frage gestellt.

Dieses Verfahren war andererseits jedoch eine freundliche Geste gegenüber der Regierung in Russland: Auf diese Weise vermeidet nämlich Polen den Eindruck, dass die russischen Behörden die Tschetschenen allein wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit verfolgen. Damit war auch die EU im Stillen einverstanden, weil, wenn man allen Tschetschenen politisches Asyl gewähren würde, würde dies für sie eine uneingeschränkte Reisefreiheit innerhalb der EU bedeuten.

Polen will jedoch keine Tschetschenen nach Russland abschieben. Sie haben sich über Jahre hinweg halblegal in Polen aufgehalten und jetzt wird ihnen die sogenannte Duldung gewährt, die bisher schon 600 tschetschenische Staatsbürger erhalten haben. Damit jedoch wird lediglich eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilt. Die Tschetschenen müssen selbst für ihre Unterkunft sorgen. Dafür haben sie jedoch kein Geld und landen auf der Straße. Niemand weiß, wovon sie leben und sie werden in die Grauzone der Wirtschaft gedrängt. Bei der Mehrheit von ihnen handelt es sich um Familien mit Kindern, die oft aus den tschetschenischen Dörfern stammen. Die polnischen und die internationalen Hilfsorganisationen haben leider nur begrenzte Möglichkeiten, diesen Familien zu helfen.

Von dem Standpunkt der EU aus gesehen spielt Polen die Rolle einer Festungsmauer sehr gut, hinter der die unerwünschten Gäste bleiben müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Flüchtlinge aus Tschetschenien ein nur polnisches Problem darstellen. Das ist ein Problem, das sich auf ganz Europa erstreckt, sowohl im moralischen als auch im praktischen Sinne.

Ein Minimum an europäischer Solidarität wäre es, uns aus den EU-Mitteln Geld für die Hilfe für Flüchtlinge aus Tschetschenien zur Verfügung zu stellen, und zwar für Wohnungen, Gesundheitsversorgung und für Schulungen, die ihnen helfen sollten, eine Arbeitstelle zu finden.

Ein Maximum an europäischer Solidarität wäre es, Druck auf Russland auszuüben, das "Problem Tschetschenien" in einer humanen und politischen Weise zu lösen, die auch von den Tschetschenen selbst akzeptiert werden könnte.

Die bisherige "Lösung" d. h. die Flucht der Tschetschenen aus ihrer Heimat, ist vielleicht für den Kreml von Vorteil, aber mit Sicherheit nicht für die Tschetschenen selbst und nicht für Europa. (sta)