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Ein Roman über das Leben in der Diktatur

Sven Ahnert8. Mai 2013

Liebe, Krieg und Kunst: Darum geht es in William T. Vollmanns historischem Roman "Europe Central". Das Monumentalwerk des US-Autors ist jetzt ins Deutsche übersetzt. Unser Reporter Sven Ahnert traf Vollmann in Berlin.

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Schlacht um Stalingrad im Januar 1943: Sowjetarmisten im Häuserkampf (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images

"Europe Central" ist ein großer mosaikartiger Erzählteppich über das Leben in der Diktatur, vergleichbar einem Epochenbild so wie es in Tolstojs Roman "Krieg und Frieden" für das napoleonische Zeitalter entstanden ist. In 37 Geschichten, fünf davon sind über 50 Seiten lang, entwirft der exzentrische US-Romancier Vollmann ein schillerndes Panorama parallel angeordneter deutsch-russischer Biografien und Geschichten: angefangen im vorrevolutionären Russland bis hinein in die Zeit des Kalten Krieges. Es ist ein faszinierendes Spiel mit der historischen Wahrheit, die fiktional weitergesponnen wird. Jetzt liegt Vollmanns "Europe Central" auf Deutsch vor, ein 1.000-seitiger Historienroman in der Übersetzung von Robin Detje.

Europe Central - eine gigantische Telefonvermittlung

Vollmann erzählt von persönlichem Leid und den Demütigungen, die russische und deutsche Intellektuelle und Militärs unter den Diktaturen Hitlers und Stalins erfahren mussten. "Europe Central", zu deutsch "Mitteleuropa", ist bei Vollmann eine gigantische Telefonvermittlung. Sie steht als Sinnbild vom Lauschangriff eines passionierten historischen Erzählers, der in die vielen Leben seiner Romanfiguren hineinhorcht. Im Gespräch mit der DW erläutert Vollmann, was hinter dem Titel steckt: "Das Telefon als Kontroll- und Überwachungsinstrument ist die zentrale Metapher des Romans. 'Europe Central' ist die Geschichte Zentraleuropas, das sich im Griff autoritärer Regimes befindet, die wie ein gieriger Krake ihre Tentakeln in alle Richtungen ausfahren."

Tolstoj beschreibt in "Krieg und Frieden" das napoleonische Zeitalter, Vollmann das mörderische 20. Jahrhundert. Das Gemälde zeigt Napoleon (1769-1821) zu Pferd (Foto: picture alliance)
Tolstoj beschreibt in "Krieg und Frieden" das napoleonische Zeitalter, Vollmann das mörderische 20. JahrhundertBild: picture alliance/Imagno

Romane in XXL

Ist Vollmanns Roman ein epischer Wälzer in der Nachfolge von "Tolstojs Krieg und Frieden", geschrieben für das 21. Jahrhundert? Vollmann, Jahrgang 1959,  lächelt trocken: "Ich weiß vorher einfach nicht, wie lang so ein Roman wird. Die Leute vom Verlag bitten mich immer, dass ich den Umfang meiner Bücher angeben soll. Das kann ich nie." Rund 1.000 Seiten hat das Buch. Das ist im Vergleich zu seinen anderen, episch angelegten Themen- und Essay-Büchern verhältnismäßig schmal.

William Tanner Vollmann (Rechte: Sven Ahnert/DW)
William Tanner Vollmann schreibt Romane mit ÜberlängeBild: DW/Sven Ahnert

Der historisch-politische Reportage-Essay "Imperial" über das gleichnamige kalifornisch-mexikanische Grenzland umfasst 1400 Seiten, Vollmanns opus magnum, der gewaltige, sieben Bände umspannende Essay zur Kulturgeschichte bewaffneter Gewalt, "Rising Up and Rising Down", entfaltet sich gar auf 3500 Seiten. Da wirken die Geschichten aus Europe Central konzentriert, knapp und gestrafft.

Die Tradition schreibender Haudegen

Vollmann lässt sich mühelos in die Ahnengalerie der unerschrockenen, Waffen tragenden reisenden Haudegen wie Ernest Hemingway und Hunter S. Thompson einreihen, die jeder Gefahr trotzen und mit unbeirrbarer Neugier in die dunklen Abgründe der Zivilisation blicken. Vollmann ist 2011 in die "Todeszone" des Atomkraftwerks von Fukushima gereist, begleitete Anfang 1982 die Mudschaheddin in Afghanistan auf ihren Kriegszügen gegen die sowjetischen Besatzer. Im Herbst wird sein Fotoband "Book of Dolores" erscheinen. In der bizarren Dokumentation zeigt sich der Autor in weiblicher Verkleidung - ein satirisch-schmerzlicher Selbstversuch in Sachen Geschlechtertausch. 2005 veröffentlichte Vollmann dann seinen monumentalen Roman über Deutschland und Russland in den Zeiten ideologischer Verblendung: "Europe Central" in englischer Sprache.

Der "schreibende Haudegen" Ernest Hemingway, hier mit Kubas Fidel Castro (rechts) (Foto: AP)
Der "schreibende Haudegen" Ernest Hemingway, hier mit Kubas Fidel Castro (rechts)Bild: AP

Das Liebesleben des Dimitri Schostakowitsch

Fast wie ein Roman im Roman mutet das Kapitel "Opus 110"an: Es ist dem russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch gewidmet, dem großen Komponisten, der seine Kunst zur Staatskunst erklären musste und unter Stalins eiserner Faust zu leiden hatte. "Dimitri Schostakowitsch hat man immer vorgeworfen, er hätte sich mit dem sowjetischen Regime arrangiert. Alle Personen meines Romans mussten sich arrangieren. Doch das kann man ihnen doch nicht vorhalten. Sie sind ja schließlich keine Superhelden", sagt Vollmann.

Dmitiri Schostakowitsch, 1941 im belagerten Leningrad: Der Komponist arbeitet in seiner Wohnung an der Niederschrift der 7. Symphonie C-Dur (Foto: picture alliance)
Dmitiri Schostakowitsch 1941 im belagerten LeningradBild: picture-alliance/akg-images/RIA Nowosti

Dmitri Schostakowitsch ist nicht die einzige bekannte Persönlichkeit, die dem Leser auf den Romanseiten begegnet. Er habe aber auch jeden anderen Menschen aussuchen können, erklärt Vollmann. "Das entscheidende Merkmal dieser teils prominenten Menschen ist, dass sie Spuren hinterlassen haben, die es mir erlaubt haben, mich in diese Biografien zu versenken: ob Käthe Kollwitz, der Filmregisseur Roman Karmen oder eben Dimitri Schostakowitsch."

Die Musik und das von Vollmann ausgeschmückte Liebesleben von Schostakowitsch und der Musikstudentin Elena Konstantinowskaja bilden den roten Faden des Buches, sind aber nur eine Stimme im prismatischen Arrangement dieser Geschichtensammlung. Sie bildet am Ende kein in sich geschlossenes Panorama des Totalitarismus ab, sondern erzählt vielstimmig vom Leben unter totalitärer Ordnung.

Der Leser begegnet auch ihr: der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz: ein Selbstbildnis von 1927 (Foto: dpa)
Der Leser begegnet auch der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz: ein Selbstbildnis von 1927Bild: dpa

Was Deutschland und Texas gemeinsam haben

In "Europe Central" war nicht viel Platz den oft selbstironischen Schwung, der viele seiner Reportagen begleitet. Den findet er wieder, wenn der Kalifornier erzählt, was ihm durch den Kopf geht, wenn er an seine frühen Berührungspunkte zu Deutschland angeht: "Als ich auf dem College Deutsch gelernt habe, wurde uns immer gesagt, Deutschland sei so groß wie Texas. So musste ich zunächst immer an Texas denken, wenn der Name Deutschland fiel. Heute weiß ich: Deutschland hat nichts mit Texas zu tun." 

Vielschichtiger Wälzer: Europe Central (Foto: Suhrkamp Verlag)
Vielschichtiger Wälzer: Europe Central

Fasziniert sei er schon immer von den großen Erzählungen über Aufstieg und Fall kleiner und großer Gesellschaften und Kulturen gewesen, erzählt der Autor. Dass er die Historie der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in ihrer schier mörderischen Detailfülle beherrscht, spricht für Vollmanns distanzierte Betrachtungsweise. Ob Schusswaffen am Nordpol, Kapitalverbrechen in mexikanischen Grenzdörfern oder  Europas mörderische Metamorphosen im 20. Jahrhundert, für alles findet Vollmann seine Form. "Europe Central" ist kein Roman in Cinemascope, sondern eher abendfüllende, epische Kammermusik geworden.

William T. Vollmann: Europe Central. Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje. 1025 Seiten. Suhrkamp 2013, 39,95 Euro, ISBN: 978-3-518-42368-4