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Ein Volk sieht Oranje

Wim Abbink15. Juni 2004

Es ist die Zeit der Euphorie, des ganz normalen Wahnsinns - schließlich ist ja EM-Zeit. 16 Millionen "Bondscoaches" können sich nicht irren: Oranje wird Europameister. Oder?

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Bild: dpa

Es gibt ja Länder, in denen sich viele Menschen gar nicht für Fußball erwärmen können. Die Niederlande gehören auch dazu - außer, es ist gerade Fußball-Festivalzeit.

Da gibt's niemanden, der sich angeödet abwendet. Da sind alle, Männer, Frauen und Kinder, voll bei der Sache - auch wenn sie sonst ein passives Abseits kaum von einer sehr aktiven Grätsche unterscheiden können. Da ist kein Platz für notorische Bedenkenträger, die schon mal von einer "Altherrenmannschaft" sprechen, die da antritt. Da ist Begeisterung angesagt, kollektive Begeisterung. Darf man sich ja auch mal gönnen - in einem Land, in dem nationale Euphorie nicht gerade zum Alltag gehört.

Farbe Orange in den Niederlanden Fußball, Oranje
Die Ausstattung darf schon ausgefallen sein ...Bild: dpa

Keiner entzieht sich, keiner kann sich entziehen. Ein Glück, dass in Portugal nur abends gespielt wird - da bleibt der wirtschaftliche Schaden wenigstens in Grenzen. Der Wahnsinn dagegen ist allgegenwärtig. Und hat sogar eine Farbe: Orange. Die springt einem förmlich ins Auge - auf Schritt und Tritt. Jeder Supermarkt, jedes Warenhaus, sogar der Bäcker um die Ecke hat Produktpalette und Dekoration farblich auf die Bedürfnisse des alles und alle nivellierenden Glückstaumels abgestimmt.

Erfinder der Schwalbe

Ganze Wohnviertel sind in Orange gehüllt, sogar der Asphalt auf den Straßen bekommt schon mal den entsprechenden Anstrich, was dann allerdings die Toleranz der Behörden doch arg strapaziert. Tageszeitungen, die sonst nur in tristem Schwarz-Weiß erscheinen, bekommen plötzlich Farbtupfer. Wer Anzeigen schaltet, lässt seine Offerten orange unterlegen, natürlich verbunden mit den besten Wünschen für onze jongens - und mehr oder weniger witzigen Seitenhieben auf den ersten Gruppengegner.

Farbe Orange in den Niederlanden Wohnwagen
... aber Hauptsache OrangeBild: dpa

Aber einen Lieblingsgegner wird man ja noch haben dürfen. Schlimm genug, dass man den einst so gefürchteten östlichen Nachbarn, diesen Dusel-Siegern in letzter Minute, diesen durch-Kampf-zum-Spiel-Findern, diesen fußballerischen Anti-Künstlern, diesen Erfindern der Schwalbe (weiß der modale Deutsche überhaupt, in wie vielen Kultursprachen es dieses Lehnwort gibt???) mittlerweile nicht mal mehr Häme, sondern nur noch aufrichtiges Mitleid entgegen bringt. Da muss Rudi Völler ja richtig die Spucke wegbleiben ...

Tschüss Rudi
Dag Rudi (Tschüss Rudi) heißt eine niederländische Website, die schon mal einstimmt auf den Fußball-KlassikerBild: www.dagrudi.nl

Weicheier und Eierlikör

Vorbei sind die Zeiten, in denen man zumindest Respekt hatte vor der Moral der Deutschen, in denen man deren Ballfänger im Tor zwar nicht liebte, aber dennoch heimlich bewunderte. Aber die Eier, die der badische Bayer in der letzten Saison mal forderte, kann man nirgendwo erkennen - höchstens Weicheier. Und aus denen wird, ganz klar, ein nationales Gesöff gemacht - eine Anspielung auf Dick Advocaat, den Nationaltrainer, dessen Name auf niederländisch nicht nur "Anwalts Liebling" bedeutet, sondern eben auch "Eierlikör".

Torhüter Oliver Kahn
Oliver Kahn und sein Missgeschick im Spiel gegen Real MadridBild: AP

Ein Volk, bestehend aus 16 Millionen Bondscoaches, steht, anders als die "richtigen" Experten wie der nationale Totalverweigerer Johan Cruyff, Dauerbesserwisser Ruud Gullit und andere Altgediente, hinter seiner Mannschaft, oder besser: sitzt - und zwar auf der Couch vorm Fernseher, ausgerüstet mit lächerlich anmutenden Kopfbedeckungen, Plastiktröten und sonstigen orangefarbenen Fanutensilien, freundlich aufgezwungen vom Metzger, der Hausbank oder dem Spirituosenhändler. Und sollte es bei der gar nicht so seltenen fußballerischen Gratwanderung zwischen Selbstbewusstsein und Überheblichkeit erstaunlicherweise doch nicht zum Titel reichen: auch egal - Hauptsache, das erste Spiel wurde gewonnen. Oder …?

Cruyff
Immer am Ball - wenn auch nur verbal: Johan CruyffBild: dpa