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Einblicke in Brüsseler Hinterköpfe

Bernd Riegert14. Dezember 2004

In Brüssel diskutieren Journalisten und Politiker den möglichen EU-Beitritt der Türkei vor Publikum betont sachlich. Jenseits der Kameras und Mikrofone sind ganz andere Töne zu hören, so DW-Korrespondent Bernd Riegert.

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Der Döner: Klischee Nummer Eins auch unter Brüsseler JournalistenBild: AP
Bernd Riegert

Türken-Witze und Sprüche wie "Döner macht schöner!" haben zur Zeit in Brüssel Konjunktur. Unter den Journalisten und teilweise auch unter den Diplomaten. Während der zahlreichen Sitzungen der Botschafter, des Rates, der Kommission zum Beitritt der Türkei wird ernsthaft verhandelt, aber während der Pausen und in Hintergrundgesprächen hat jeder sein schönstes oder furchtbarstes Urlaubserlebnis in der Türkei zu erzählen.

Schnell werden Recep Tayyip Erdogan und seine Regierungsmannschaft mit Teppichverkäufern, Basaris und Gemüsehändlern verglichen. Die Angst vor dem Fremden und Ungewohnten wird in Stereotypen und flapsige Bemerkungen gekleidet. Ein menschlicher Ventil-Mechanismus, der übrigens nicht erst bei den Türken, sondern auch bei den bulgarischen und rumänischen Beitrittsverhandlungen zu voller Anwendung kam. Aus Bulgaren wurden pauschal Mafiosi und aus Rumänen klauende Zigeuner.

"Reiche, überhebliche Geldsäcke"

Natürlich ist das politisch nicht korrekt, ausländerfeindlich, rassistisch und wer weiß was noch, deshalb werden diese Dinge auch nie in der offiziellen Berichterstattung oder Verhandlungsführung auftauchen, aber in den Hinterköpfen schlummern sie doch. Fragt man türkische Kollegen, welche Vorurteile und Stereotypen denn die türkischen Delegationen über die da in Brüssel wirklich hegen, bekommt man zur Antwort: Reiche, überhebliche Geldsäcke, die ein dekadentes und unmoralisches Leben führen. Auch nicht viel besser.

Nach vierzig Jahren der Annäherungsversuche sind sich Brüssel und Ankara immer noch fremd. Das mag daran liegen, dass viele Korrespondenten die Türkei oder Türken nicht aus eigener Erfahrung kennen. Für viele Deutsche haben die eher weniger intellektuellen anatolischen Einwanderer, die in deutschen Städten zur Ghettobildung neigen, ihr Türkenbild geprägt. Oder der Goldketten verramschende Touristennepper in Antayla. Die aufstrebende Wirtschaftselite, die hippen Neureichen, die Studenten in den schicken Stadtteilen Istanbuls, die erfolgreichen türkischen Unternehmer, die in die ganze Welt exportieren, kennt dagegen kaum jemand. Die hysterische Angst vor dem angeblich bedrohlichen Islam kommt dazu.

Bedenken weggewischt

Jetzt erst, wo es wirklich ernst wird mit den Beitrittsverhandlungen, beginnen die Überlegungen, was die "Türken vor Brüssel!" denn für das Wirken der EU bedeuten könnten. Rein praktisch würde Türkisch eine der Hauptsprachen der Union werden. Viele türkische Beamte würden in die Brüssler Bürokratensilos einziehen, befürchten die heutigen Bewohner. Die Türkei würde bei ihrem Beitritt wahrscheinlich das bevölkerungsreichste Land mit dem größten Stimmengewicht sein. Das fein austarierte Gefüge zwischen den großen Vier, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, geriete ins Wanken.

Die Politiker, die jetzt über das Schicksal der EU und der Türkei entscheiden, wischen Bedenken gerne mit der Bemerkung beiseite: "Ach, das erleben Sie und ich doch gar nicht mehr!" Der Beitritt komme ja erst in 15 Jahren. Im Klartext heißt das ja wohl: "So richtig überzeugt sind wir auch nicht, aber nach uns die Sintflut." Wie mit einer solchen Einstellung allerdings Referenden in skeptischen Staaten wie Frankreich gewonnen werden sollen, ist mir ein Rätsel. Dass man nicht so richtig überzeugt ist vom eigenen Kurs, zeigen die zahlreichen Sicherheitsklauseln und Notbremsen, die in die Beitrittsprozedur eingebaut werden sollen.

Weichen gestellt

Als Hallstein, Adenauer und Co. vor vierzig Jahren der Türkei die EU-Perspektive eröffneten, haben sie vielleicht ähnlich gedacht. "Was kümmert es mich, das ist ja noch so weit weg...!" Damals ging es darum, die Türkei im Kalten Krieg bei der Stange zu halten. Der ist lange vorbei, aber das Versprechen steht. Und jetzt haben wir die Bescherung. Oder wie es der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker formuliert: Keiner ist begeistert, aber niemand traut sich, das zu sagen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.