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Die fiktive Realität

6. November 2009

Um 23:30 Uhr gehen die Schlagbäume in der Bornholmer Straße hoch. Tausende DDR-Bürger strömen nach Westberlin. Dass am 9.11.1989 die Mauer fiel, ist auch den Medien zu verdanken, glaubt Historiker Hanns Hermann Hertle.

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Demonstrationen in der DDR im Wendejahr 1989 Demonstration für Reformen in der DDR, zu der verschiedene Organisationen und Kuenstler aufgerufen haben und an der ca. 750000 Menschen teilgenommen haben; der Erste Sekretaer der SED-Bezirksleitung von Berlin, Günter Schabowski, wird bei seiner Rede ausgepfiffen - 04.11.1989 (Bild: ullstein - Ritter)
Schabowski: erst spielte er mit den Medien, dann spielten die Medien mit ihmBild: ullstein - Ritter
Grenzöffnung Bornholmer Straße in Berlin (Foto: DW-TV)
Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin kurz nach der Maueröffnung

Kaum eine Pressekonferenz löste größere Konfusionen aus als die von Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989. Auch Privatreisen in den Westen sollten nach seinen Worten plötzlich "beantragt" und "kurzfristig" genehmigt werden - und das "unverzüglich". Macht die neue Reiseregelung die Mauer dann nicht überflüssig? Journalisten in der Pressekonferenz und Bürger vor den Bildschirmen in Ost und West stehen vor einem Rätsel. Ursprünglich sollte die von Schabowski dilettantisch und falsch vorgetragene neue Reise- und Ausreisereglung geordnet und bürokratisch umgesetzt werden. Doch dafür ist es jetzt zu spät: das Geschehen unterliegt dem Deutungsmarathon der Journalisten, die sich im Laufe des Abends immer wieder überbieten, sagt Historiker und Dokumentarfilmer Dr. Hanns Hermann Hertle vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam. In seinem Buch "Der Tag, an dem die Mauer fiel", zeichnet er die Abläufe minutiös nach.

"DDR öffnet Grenze"

Kurz vor 19:00 Uhr endet die Pressekonferenz mit Schabowski. Unmittelbar danach kommen die ersten Agenturmeldungen, zurückhaltend, zunächst referierend formuliert. Dann erscheint auf dem Ticker um 19.09 Uhr die Eilmeldung von AP mit dem Titel: "DDR öffnet Grenzen." Der heute pensionierte AP-Korrespondent Frieder Reimold verfasste die Meldung mit Blick auf ihre politische Bedeutung. "Da alles kurzfristig geregelt werden soll", dachte er ,"ist in dem Moment, wo Schabowski das verkündet, die Grenze gefallen."

Seine Zweifel setzen erst kurze Zeit später ein. Wird die SED-Führung ihr Versprechen auch wirklich halten? Ist er mit seiner Formulierung zu weit gegangen? Alles Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, erinnert er sich heute. Doch die Meldung ist schon raus und hat einen Deutungswettbewerb ausgelöst.

"Grenze ist offen"

Eine Nachrichtensprecherin verkündet im DDR-Fernsehen die neue Ausreiseregelung. Aktuelle Kamera vom 09.11.1989 (Foto: Deutsches Rundfunkarchiv)
DDR-Nachrichten "Aktuelle Kamera" vom 09.11.1989Bild: Deutsches Rundfunkarchiv

Um 19:41 schreibt die DPA schon: "Die Grenze nach West-Berlin ist offen". Die Meldungen der Agenturen habe dann eine Eigendynamik entwickelt, glaubt Hertle. Inzwischen verkündet auch der RIAS die Nachricht: "Die DDR hat ihre Grenzen zur Bundesrepublik mit sofortiger Wirkung für Westreisen und Übersiedlungen geöffnet." Der Deutungswettbewerb spitzt sich noch in den Tagesthemen um 22:45 Uhr zu. Moderator Hanns-Joachim Friedrichs begrüßt die Zuschauer mit den Worten: "Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten. Sie nutzen sich leicht ab. Aber heute darf man einen riskieren. Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind." Pathetisch fügt er noch hinzu: "Die Tore in der Mauer stehen weit offen!"

Die Medien bauen Druck auf - die Grenzer öffnen das Ventil

Hanns Joachim Friedrichs soll seine Moderation auf Grundlage der Agenturmeldungen geschrieben haben. Laut Hertle war er "überrascht", dass es in der Live-Schaltung zum Grenzübergang Invalidenstraße, an dem SFB-Korrespondent Robin Lautenbach stand, außerordentlich ruhig zuging. Weit offen standen zu diesem Zeitpunkt die Tore der Mauer auch am Grenzübergang Bornholmer Straße noch nicht. Zwar hatten sich dort bereits Hunderte von Menschen versammelt. Die Grenze passieren durften aber nur einzelne lautstarke Protestierer, die damit unwissentlich ausgebürgert waren. "Ventillösung" nannten die Grenzbeamten ihr Vorgehen.

Ostberliner Bürger klettern in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 auf die Berliner Mauer. (Bild: AP/Jockel Finck)
Kletterpartie in der Nacht des MauerfallsBild: AP

Der Dammbruch ereignet sich erst um 23:30 Uhr. Wesentlichen Anteil daran hat der Aufmacher in den Tagesthemen, glaubt Hertel, denn danach strömen von beiden Seiten der Mauer immer mehr Menschen herbei. "Tor auf, Tor auf!" skandieren sie. Vergeblich versuchen die von den Ereignissen immer noch überwältigten Grenzbeamten zu erklären, dass vor der Ausreise noch ein Antrag gestellt werden muss. Schließlich kapitulieren sie vor den Massen. Die Mauer fällt über Nacht.

Als "ein bisschen übertrieben" bewertet Korrespondent Robin Lautenbach heute, 20 Jahre später, die Äußerung von Hanns Joachim Friedrichs zu jenem Zeitpunkt. Er sei aber ein "plastisches Bild" gewesen, das sofort gezündet hat.

"Fiktion der offenen Grenze"

"Die Medien haben im Laufe des Abends des 9. November eine Fiktion von offenen Grenzen verbreitet", resümiert Hertle. Erst indem diese Fiktion die Massen ergriffen habe, sei sie zur Realität geworden. Ähnlich bewertet dies auch der damalige AP-Korrespondent Frieder Reimold. Er betrachtet den 9. November vor 20 Jahren als Ergebnis eines Zusammenwirkens von Medien, die "nach den Pleiten, Pech und Pannen der DDR-Führung das Heft des Handelns einfach ergriffen haben."

Ob die Medien am 09. November wirklich Motor der politischen Entwicklungen waren, die zum Fall der Mauer geführt haben, lässt sich natürlich schwer beweisen. Unbestritten ist aber, dass sie eine beschleunigende Wirkung auf Ablauf der Ereignisse hatten.

Autorin: Eleni Klotsikas
Redaktion: Tobias Oelmaier