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Eine große Koalition brächte nur weichgespülte Reformen

Uta Thofern4. August 2005

Sie wird immer wahrscheinlicher: Die große Koalition aus SPD und CDU/CSU. Doch übernimmt sie im Herbst tatsächlich das Zepter, sind klare Entscheidungen wohl kaum zu erwarten, meint Uta Thofern.

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Große Koalition, das klingt für viele Deutsche verheißungsvoll, nach großen Taten und großer Harmonie. Zugleich werden Erinnerungen wach an die Regierungszeit der ersten und bisher einzigen Großen Koalition auf Bundesebene, 1966 bis 1969. Und plötzlich fällt so manchem deutschen Bürger ein, dass doch nicht alles schlecht war, damals. In der Tat, das erste schwarz-rote Bündnis (CDU/CSU - SPD) hat in der Bundesrepublik vermutlich mehr bewegt als die vermeintlich revolutionäre 68er-Generation, die lediglich mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Große Koalition legte damals den Grundstein für die gesellschaftliche Liberalisierung der Nachkriegsrepublik, die von der nachfolgenden SPD-FDP-Regierung vollendet wurde. Schwarz-rot tat die ersten Schritte auf dem Weg zu einer neuen Ostpolitik, und schwarz-rot waren auch die ersten Ansätze zu einer Modernisierung des Regierungswesens.

Schluss mit dem Parteiengezänk

Was könnte also verlockender sein als eine Neuauflage dieses Bündnisses? Mit einer komfortablen Mehrheit ausgerüstet sollte eine solche Koalition in der Lage sein, die überfällige Grundüberholung des deutschen Modells anzugehen - ohne nennenswerte Widerstände aus den verschiedenen Bundesländern, ohne quälende Blockaden und endlose Auseinandersetzungen. Ein knappes Drittel der Wähler setzt laut Umfragen bereits darauf und ersehnt wohl nicht nur ein Ende des Parteiengezänks, sondern womöglich auch weichere Reformen, konsensualer und damit sozialverträglicher.

Beides ist eine Illusion. Die 1960er Jahre kommen nicht zurück. Die damaligen führenden Regierungspolitiker, der Christdemokrat Kurt Kiesinger und der Sozialdemokrat Willy Brandt, lebten in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit kein Problem und Staatsverschuldung beinahe noch ein Fremdwort war. Deutschland war damals noch ein Land, in dem, anders als heute, die durchschnittliche Renten-Biographie 40 Jahre im selben Betrieb vorsah und in dem Kinderlosigkeit noch als schweres Schicksal angesehen wurde. In dieser alten Bundesrepublik wurden gesellschaftliche und politische Reformen mit sozialen Geschenken verknüpft. Das können die Deutschen sich heute nicht mehr leisten. Deutschland im 21. Jahrhundert braucht mehr als sanfte Kompromisse, es braucht grundlegende Veränderungen.

Blockieren statt regieren

Zudem wäre noch nicht einmal ein Ende der Blockadepolitik zu erwarten. Im Gegenteil: Die zermürbenden Auseinandersetzungen, die bislang zwischen Bundestag und Bundesrat stattfanden, sie würden mitten in die Regierung hineingetragen. Das politische Personal der SPD nach Bundeskanzler Gerhard Schröder und Parteichef Franz Müntefering wäre nicht in der Lage, ernsthafte Reformen geschlossen mit zu tragen. Anders als Ende der 1960er Jahre befinden sich die Sozialdemokraten heute nicht im Aufwind. Sie würden zerrieben zwischen einer populistischen Opposition von Links und der Aufgabe, in der großen Koalition verantwortungsvoll mitzuregieren.

Kollektive Selbsttäuschung

Ein Bündnis von CDU und SPD hätte heute zwar klare Mehrheiten, zu klaren Entscheidungen aber wäre es nicht fähig. Das Ergebnis wäre ein weichgespültes Reformprogramm, das Deutschland wieder nur Zeit kosten würde. Sicher, ein breites Reformbündnis wäre wünschenswert, um notwendigen Einschnitten eine möglichst große Akzeptanz zu verschaffen. Das allerdings würde bei allen beteiligten Kräften Einsicht in die Notwendigkeit voraussetzen - die derzeit nicht zu erkennen ist. In Deutschland neigen Wähler und Parteien vielmehr ganz offensichtlich immer noch zur kollektiven Selbsttäuschung.