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Ukrainer in Polen

1. März 2012

Knapp 100 Tage sind es noch, bis Polen und die Ukraine gemeinsam die Fußball-EM ausrichten. Doch die Länder vereint mehr als nur das Turnier - denn mehr als 300.000 Menschen mit ukrainischen Wurzeln leben heute in Polen.

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Schild am Eingang des Bundes der Ukrainer in Warschau (Foto: DW)
Bild: DW

Sie sieht aus wie eine typisch ukrainische Schule und doch ist sie fast 400 Kilometer von der Ukraine entfernt. Hier, in Górowo Iławieckie im äußersten Norden Polens, befindet sich eines der Ballungszentren der ukrainischen Minderheit in Polen. Unterrichtssprache in der Schule ist Ukrainisch. "Wir sind eine von insgesamt fünf ukrainischsprachigen Schulen in Polen", sagt Lehrerin Joanna Masyk. "Wir pflegen hier die ukrainische Kultur, Literatur und unsere traditionellen Tänze."

Ewa Wilas gehört der ukrainischen Minderheit in Polen an. Sie ist 17 Jahre alt und in Polen geboren. Heute ist sie in ukrainischer Tracht in die Schule gekommen. Sie sagt, dass sie gern hier Schülerin ist. "Ich fühle mich nicht als Polin, sondern als Ukrainerin. Zuhause wird Ukrainisch gesprochen. Meinen Eltern war wichtig, dass ich hier herkomme und mich nicht dafür schäme, Ukrainerin zu sein." Und das, obwohl ihre Familie über 100 Kilometer entfernt lebt: "Ich wohne hier im Internat. Untereinander reden wir Schüler aber eher Polnisch, weil nicht jeder Ukrainisch so gern mag wie ich."

"Aktion Weichsel" - die vergessene Vertreibung

Dass ausgerechnet in Górowo, weit entfernt von Lemberg und Kiew, so viele Ukrainer leben, ist kein Zufall, sondern Folge eines tragischen Kapitels der Geschichte. Im Anschluss an die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg verblieben immer noch zahlreiche Ukrainer im Gebiet nahe der neugeschaffenen Ostgrenze Polens. Die neuen Machthaber in Polen sahen in den Ukrainern eine Gefahr: Aus Angst vor einer Verbrüderung der Ukrainer in Polen mit denen in der Westukraine noch immer für einen unabhängigen Staat kämpfenden Nationalisten, führte man im Sommer 1947 die sogenannte "Aktion Weichsel" durch und vertrieb 150.000 Ukrainer gen Westen, um sie in den ehemals deutschen Gebieten, vor allem in Nordpolen, wieder anzusiedeln. "Wir haben dafür gekämpft, dass die Aktion Weichsel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wird", sagt Piotr Tyma, Direktor des Verbandes der Ukrainer in Polen, "das ist aber nicht geschehen". Auch dadurch, dass die "Aktion Weichsel" jahrzehntelang ein Tabuthema gewesen sei, sei sie zu einem der am stärksten in Vergessenheit geratenen Teile der europäischen Vertreibungsgeschichte geworden.

Tymas Verband vertritt heute rund 300.000 Menschen mit ukrainischen Wurzeln in Polen, darunter solche, die seit Jahrzehnten im Land leben, aber auch Arbeitsmigranten aus der Ukraine, die nach 1990 kamen. Die Ukrainer sind eine von neun anerkannten Minderheiten in Polen. Viele Rechte, die andere Minderheiten wie zum Beispiel die Deutschen in Schlesien genießen, können sie allerdings nicht ausüben. "Wir sind keine Minderheit zweiter Klasse - aber wir sind einfach zu sehr auf Polen verteilt", sagt Tyma. "Das ist eine Spätfolge von 1947: Um beispielsweise zweisprachige Straßenschilder zu bekommen, müssten wir 20 Prozent einer Gemeinde stellen. Aber selbst in und um Górowo Iławieckie wurde die Bevölkerung schon damals so auf verschiedene Gemeinden verteilt, dass sie die Anforderungen nicht erfüllen."

In Górowo Iławieckie, dem ehemals deutschen "Preußisch Eylau", ist die Kirche im Ort das deutlichste Symbol der Vertreibungsgeschichte - und ein Ort der Gegensätze. Der typisch ostpreußische, protestantische Backsteinbau wurde von den neuen, ukrainischen Bewohnern des Ortes weiterverwendet und in eine orthodoxe Kirche umgeweiht. Außen immer noch preußisch-kühl, ist sie doch im Innern typisch orthodox dekoriert. Die Kirche ist der wichtigste Treffpunkt für die Ukrainer und spielte gerade in der Zeit des Kommunismus eine wichtige Rolle. Damals wurde von offizieller Seite verschwiegen, dass es die Minderheit überhaupt gab. "Das ukrainische Nationalgefühl wurde aber generell während der Zeit der Sowjetunion hier besser gepflegt als in der Ukraine selbst, weil es dort ja nicht mal einen unabhängigen Staat gab", sagt Tyma.

Ukrainer sind keine Fremden

Ebenfalls stark vertreten sind die Ukrainer noch immer rund um die Stadt Przemyśl in Südostpolen, etwa 100 Kilometer von Lwiw. Stanisław Stępien hat hier das Zentrum für südöstliche Studien eingerichtet und beschäftigt sich mit Geschichte und Gegenwart des polnisch-ukrainischen Zusammenlebens. "Wenn hier heute jemand auf die Arbeit kommt, weiß man erstmal nicht, ob das ein Pole ist oder ein Ukrainer. Die Ukrainer sind in erster Linie polnische Bürger, sie sind keine Fremden. Sie tragen das Ukrainertum auch nicht vor sich her", sagt Stępien. Ein Teil der Ukrainer sei stark assimiliert, gerade im Norden Polens. "Die hier im Osten Verbliebenen aber nicht alle, sie sind ja seit Generationen hier", so der Historiker weiter.

Die Ukrainer sind in der polnischen Gesellschaft angekommen. "Klar habe ich als Kind erlebt, dass die Leute mich beschimpft haben", sagt Lehrerin Joanna Masyk. "Seit 1990 ist die Situation hier aber besser." Auch dank des Verbandes der Ukrainer, den es seit Februar 1990 gibt und der den Schutz der Ukrainer in Polen überwacht. Der Einfluss der Regierung in Kiew auf die Diaspora ist relativ klein, und für Piotr Tyma soll das auch am besten so bleiben. "Wir sind liberal-demokratisch. Wir sehen die Ukraine als europäisches Land", stellt Tyma klar. "Es ist für uns unverständlich, dass sich die Regierenden in Kiew nicht für eine unabhängige Ukraine, sondern für eine neue Sowjetunion einsetzen."

Polnisch-ukrainische Zukunftspläne

In Zukunft will der Verband erreichen, einen festgeschriebenen Platz im polnischen Parlament zu erhalten. Außerdem wünscht er sich, dass die "Aktion Weichsel" von den europäischen Institutionen in Brüssel als Verbrechen anerkannt wird. "Zum 65. Jahrestag der Aktion wollen wir der Aktion gedenken und hoffen, dass diese in Vergessenheit geratene Vertreibung wieder mehr ins Bewusstsein rückt", sagt Tyma.

Für die Schülerin Ewa Wilas aus Górowo ist klar, dass sie das ukrainische Erbe weiter pflegen will. Zwar kann sie sich nicht vorstellen, einmal in der Ukraine zu leben, klar ist für sie aber: "Meine Kinder werde ich garantiert in ukrainischer Tradition und mit der ukrainischen Sprache aufwachsen lassen, damit sie diese Kultur nicht vergessen!" Die Zukunft der ukrainischen Minderheit in Polen dürfte somit gesichert sein.

Autor: Friedel Taube
Redaktion: Bernd Johann

Porträt von Stanislaw Stepien, Gründer des südöstlichen Institutes in Przemysl, Polen (Foto: DW)
Stanisław Stępien, Gründer des südöstlichen Institutes in PrzemyślBild: DW
Innenaufnahme der Ukrainisch-orthodoxen Kirche in Gorowo Ilawieckie, Polen (Foto: DW)
Preußischer Backstein trifft orthodoxe Ikonostase: Die ukrainische Kirche in Górowo IławieckieBild: DW
Porträt von Piotr Tyma, Vorsitzender des Bundes der Ukrainer in Polen (Foto: DW)
Piotr Tyma ist seit 2006 Vorsitzender des Bundes der Ukrainer in PolenBild: DW
Ukrainische Schule in Gorowo Ilawieckie, Polen (Foto: DW)
Die Ukrainische Schule in Górowo IławieckieBild: DW