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Sprechende Bücher

6. April 2010

Die Bücher in der "Lebendigen Bibliothek" in Istanbul bieten eine große Auswahl: Für jedes Vorurteil ist etwas dabei. Wer hierher kommt, kann sich mit einem "Buch" unterhalten - und dabei seine Vorurteile überprüfen.

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Blick auf Istanbul (Foto: dpa)
Eine Stadt, viele Bücher - die lebenBild: picture alliance / dpa

Die "Lebendige Bibliothek" hat Bibliothekare und einen Katalog. Es gibt Ausleih-Ausweise und verschiedene Themengebiete. Eigentlich funktioniere alles wie in einer normalen Bibliothek, sagt der Direktor Meri Izrail. "Aber wir leihen keine Bücher aus, sondern Menschen. Menschen, gegen die wir Vorurteile haben. Wir haben hier beispielsweise Schwule, Griechen, Schizophrene, Araber, Mitarbeiter von NGOs, Frauen mit Kopftuch oder Armenier." Die "Lebendige Bibliothek" ist voller Bücher, die reden können.

Sich unterhalten statt lesen

Ein Bücherstapel (Foto: picture-alliance / OKAPIA KG)
Solche Bücher gibt es in der "Lebendigen Bibliothek" nichtBild: picture-alliance / OKAPIA KG

Zurzeit tourt die "Lebendige Bibliothek" durch Istanbul. Auf dem Independent-Filmfestival standen Hunderte Menschen Schlange, um sich ein lebendiges Buch auszuleihen. Anol Celick hat sich für "ein armenisches Buch" entschieden. "Ich habe noch nie einen Armenier getroffen, obwohl 60.000 Armenier in der Türkei leben. Es ist eine sehr geschlossene Gemeinschaft. Wir haben keine Ahnung, wie sie leben und was sie denken", sagt der 21-Jährige. Das wollten er und sein Freund ändern und liehen sich Bahsi aus.

Die 22-jährige Bahsi, das armenische "Buch", ist sehr beliebt bei den Besuchern. Die Spannungen zwischen Armeniern und Türken gehen auf den Ersten Weltkrieg zurück. Damals starben Schätzungen zufolge bis zu 1,5 Millionen Armenier. Während die Armenier von Völkermord sprechen, streitet die Türkei diesen Vorwurf vehement ab.

"Es hat mich sehr überrascht, dass Leute zu mir kamen und sagten, sie wollten mich verstehen. Es ist ein gutes Gefühl." Viele Türken hätten ein bestimmtes Bild von ihr, das von den Medien und der Gesellschaft geprägt werde. "Aber es ist wunderschön zu sehen, dass wir nach kurzer Zeit nette Gespräche führen. Wenn du mit den Menschen redest, merkst du, dass die Vorurteile nicht in Stein gemeißelt sind. Und nach einer halben Stunde sehen wir, dass wir vieles teilen."

Verständnis wecken

Logo der Kulturhauptstadt Istanbul
Die "Lebendige Bibliothek" in der Kulturhauptstadt 2010

Eine halbe Stunde später: Celick und sein Freund haben ihr armenisches "Buch" zurückgegeben. "Ich habe gelernt, dass Bahsi genauso über die Türkei denkt wie ich", sagt er. Genau darum gehe es bei dem Projekt der "Lebendigen Bibliothek", sagt der Organisator Izrail. Doch er weiß auch, dass es Grenzen hat. "Natürlich ist es nicht möglich, in einer halben Stunde alle Vorurteile zu beseitigen. Aber es ist ein gutes Zeichen, wenn wir Leser gewinnen."

Die "Lebendige Bibliothek" will Stereotype aufbrechen, Ängste und Vorurteile in Frage stellen. In der Türkei mit ihrer polarisierten Gesellschaft gibt es in diesem Bereich noch viel zu tun. Doch die langen Schlangen vor der "Lebendigen Bibliothek" zeigen, dass viele Türken es wenigstens versuchen wollen.

Autor: Dorian Jones
Redaktion: Julia Kuckelkorn / Fabian Schmidt