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"Eine nicht immer einfache Freundschaft"

29. Juli 2004

- Die jüngste gemeinsame Vergangenheit der Ungarn und Polen

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Budapest, 29.7.2004, PESTER LLOYD, deutsch

Die Ereignisse in Polen waren ein wichtiger Faktor bei den revolutionären Entwicklungen im Jahre 1956 in Ungarn. Es war kein Zufall, dass die demonstrierenden Budapester Studenten am 23. Oktober zunächst zum Denkmal des Józef Bem zogen: der polnische General avancierte im ungarischen Freiheitskampf gegen die Habsburger und die Russen zum ungarischen Nationalheld. Junge Polen, die 1956 in Ungarn studierten, schlossen sich den Aufständischen an und griffen auch zur Waffe. In Polen kam es zu großen Sympathiebekundungen, das Volk sammelte landesweit Lebensmittel und Geld, spendete Blut für die ungarischen Brüder und protestierte in Form von Massenkundgebungen gegen die russischen Interventionen. Diese Solidaritätswelle wurde von den Machthabern geduldet, die die Aktionen zwar teilweise beschränkten, aber nicht verboten, berichtet der junge Historiker János Tischler in seinem sowohl in Polen als auch in Ungarn erschienenen Buch über die "Jüngste gemeinsame Vergangenheit" der Ungarn und der Polen.

In Warschau versuchte man, den Menschen deutlich zu machen, dass die überschwänglichen Reaktionen auch für Polen schwerwiegende Folgen nach sich ziehen könnten. Diese Argumentation verstärkte sich nach dem 4. November, dem Tag der militärischen Niederschlagung des ungarischen Aufstands: das "nüchterne" polnische Verhalten habe verhindern können, dass das Land nicht in dieselbe Lage wie Ungarn geraten sei, ließ die Parteiführung wissen.

Nicht immer nur Sympathie und Solidarität

Oktober 1956 war auch die Zeit des Reformers Wladyslaw Gomulka, der mit den Vorgängen in Ungarn sympathisierte, aber trotz der bestehenden schweren Vorbehalte gegen ihn in Moskau nicht über seinen Schatten zu springen wagte. Während die polnische Presse – als einzige innerhalb der von der Sowjetunion dominierten Länder – relativ frei und objektiv über die Geschehnisse in Ungarn berichten konnte, ging auch Gomulka nicht weiter, als bei den Geheimverhandlungen mit Chruschtschow zu erklären, dass er nicht bereit sei, die militärischen Eingriffe gutzuheißen.

Auch er sprach dort von der "gegenrevolutionären Gefahr" und meinte, dass die ungarischen Kommunisten Waffen erhalten sollten, damit sie sich – voraussichtlich in einem Bürgerkrieg – verteidigen und den Sieg davontragen könnten. Der große Reformer hatte schlicht und einfach Angst, Moskau noch mehr zu verärgern und militärische Schritte auch gegen Polen auszulösen. Nichtsdestotrotz war er bis 1958 nicht bereit, Kádár-Ungarn zu besuchen, obwohl Budapest darauf drängte. Auch war Polen das einzige Land im Ostblock, in dem nie vorgeschrieben wurde, den ungarischen Oktober als Konterrevolution zu bezeichnen.

Während die gegenseitige Sympathie und Solidarität einer ziemlich breiten Öffentlichkeit bekannt sind, zeigt Tischler auch ein anderes, für Ungarn eher weniger vorteilhaftes Kapitel der gemeinsamen Geschichte auf. Hierbei handelt es sich um die revolutionären Zeiten zu Beginn der 80er Jahre, als die immer stärkere Gewerkschaftsbewegung der Solidarnosc zu ihren Anfängen zurückkehrte und sich für ein freieres und unabhängiges Polen einsetzte. Mit ihren ungarischen Gesinnungsgenossen, der hiesigen "demokratischen Opposition", konnten sie natürlich rechnen. Auch wenn diese relativ kleine Gruppe von Budapester Intellektuellen mit der von Lech Walesa angeführten Massenbewegung in keiner Weise zu vergleichen war. Der oppositionellen Bewegung in Ungarn, die gegenüber Polen Solidarität zeigte, verliehen die dortigen Vorgänge wiederum Auftrieb.

Dialog statt Gewalt

Das einflussreiche Magazin "New York Review of Books" veröffentlichte im Dezember 1982 einen Beitrag von György Konrád, in dem sich der Autor für Jacek Kuron, Adam Michnik und andere verhaftete Führer der "KOR" einsetzte. Konrád erinnerte an das Schicksal von Imre Nagy und dessen Genossen, die 1958 in einer geheimen Verhandlung zum Tode verurteilt und umgehend hingerichtet wurden. Die Öffentlichkeit erfuhr von all dem erst viel später – die Polen sollten sich deshalb rechtzeitig verteidigen. "Glauben Sie nicht, dass dem Schlechten nicht noch Schlechteres folgen kann", mahnte Konrád, während die ungarische Partei die Bevölkerung erfolgreich gegen die revoltierenden Polen stimmte. Während sich Letztere 1956 vollkommen solidarisch mit der Sache der Ungarn gezeigt hatten, wurde dies nun, Jahrzehnte später, nicht erwidert. Die kádársche Politik des Ausgleichs war zwar schon geschwächt, aber immer noch effektiv, so Tischler. Im Gegensatz zu Polen, wo seit 1956 eine wirtschaftliche Krise auf die andere folgte und sich die Lage der Bevölkerung nur unwesentlich verbesserte, hatte die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft schon einiges zu verlieren. Womit die verleumdende Propaganda über die "faulen Polen", die lieber streiken als arbeiten, erfolgreich sein konnte: wenn es dort so weiter ginge, werde man den arbeitsscheuen Polen mit Lebensmitteln und anderen Warenlieferungen helfen müssen, natürlich auch auf Kosten der Ungarn, vermittelte die geschickt eingefädelte Propaganda. Die Stimme der "Dissidenten", die das wahre Bild Polens spiegelte, konnte die Menschen dagegen nur kaum erreichen.

Der spätere starke Mann Polens, General Jaruzelski, zeigte sich von den Erfolgen Kádárs bei der "Konsolidierung" des Landes stark beeindruckt. Er wollte aus diesem Erfolg lernen und einen ähnlichen Weg einschlagen. Ende der 80er Jahre musste er allerdings erkennen, dass die Anwendung von Gewalt – die Basis des Erfolges von Kádár – nicht mehr möglich war. So wählte er den Dialog, der – wie in Ungarn – zu einem friedlichen Übergang führte. Der Transformationsprozess wurde in Budapest freilich nicht mehr von Kádárs Nachfolgern, sondern von den jüngeren Mitgliedern der Staatspartei bewerkstelligt, die zur selben Einsicht gelangten. (fp)