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Eine Truhe voller Schätze

Bernd Riegert, Brüssel24. Mai 2005

Brüssel-Korrespondent Bernd Riegert musste es tun: die Verfassung lesen. Das ist sein Job. Er verspricht, es sogar noch mal zu tun, wenn's sein muss. Das ist unwahrscheinlich, glaubt er. Eine Leseempfehlung trotzdem.

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Bernd Riegert

Ganz gelesen hat sie kaum jemand, aber alle reden drüber! Der fast 500 Seiten starke Vertrag über die EU-Verfassung steht bei Politikern, Beamten und Journalisten im Regal und setzt Staub an. Eine nicht repräsentative spontane Umfrage unter Kolleginnen und Kollegen in Brüssel brachte es an den Tag. "Hast du das Ding durchgelesen?" "Na, ja, nicht alles", war meistens die ausweichende Antwort.

Die Passarelle-Klausel, was?

Dabei würde sich ein tiefer Blick durchaus lohnen, schließlich enthält die Verfassung wahre Schätze an juristisch-semantischer Fabulierkunst. Mein Lieblingsartikel ist die Passarelle-Klausel (I,24 (4)). Dabei geht es nicht um europäische Fußgängerbrücken, sondern um den Übergang von einstimmig zu mehrheitlich getroffenen Entscheidungen, die der Europäische Rat unter bestimmten Umständen fällen kann. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der mehr Mitwirkung der Bundesländer in Europa fordert, scheiterte kürzlich im ZDF mit dem Versuch, die Passarelle Normalsterblichen zu erläutern. Ob er sie selber verstanden hat?

Alles halb so schlimm, findet der Präsident des Europäischen Gerichtshofes, Vassilios Skouris. Die 25 Luxemburger Richter sind qua Amt für die rechtliche Auslegung der Verfassung zuständig. Erst im Laufe der Jahre werde sich die Verfassungwirklichkeit heraus schälen, so Skouris. Das dickleibige Vertragswerk durchzulesen allein reicht nicht, um sich dem epochemachenden Text zu nähern. Er freut sich schon darauf, den Artikeln Wort für Wort auf den Grund zu gehen, wenn die ersten Klagen eintrudeln, die sich auf die Verfassung berufen. Revolutionär Neues erwartet der Europäische Gerichtshof allerdings nicht, denn in weiten Teilen führt das Werk ohnehin bestehende Verträge wie die von Rom, Maastricht, Amsterdam und Nizza zusammen.

Der Lohn von zwei Stunden Durchackern

Wirklich entscheidend sind die rund 59 Artikel im Teil I, die die künftige Machtverteilung in der EU und das Zusammenwirken der Institutionen beschreiben. Diese Artikel sind relativ klar formuliert, nicht so spannend wie der Krimi vor dem Einschlafen, aber immerhin in zwei Stunden durchzuackern.

Demokratischer und führbarer solle das erweiterte Europa werden. So preisen der deutsche Kanzler und sein Außenminister die Verfassung an, die sie hoffentlich gelesen haben. Im Kern werden die Institutionen, also Kommission, Rat und Parlament so belassen wie sie sind. Als Dreingabe gibt es einen EU-Außenminister, der aber nicht wirklich entscheiden kann. Der Rat gönnt sich einen EU-Präsidenten, der auch nichts entscheiden kann, aber Europa ein Gesicht geben soll.

Veränderte Abstimmung

Verändert wird das Abstimmungsverfahren. Es wird doppelte Mehrheiten aus Staaten und Bevölkerungsanteilen geben. Einfach ist dieses Verfahren aber auch nicht, weil einige Ausnahmen und Bremsen eingebaut werden mussten. Immerhin werden mehr Politikbereiche als bisher für Mehrheitsentscheidungen geöffnet. Und es könnten im Laufe der Zeit noch mehr werden, wenn die Regierungen der Mitgliedsstaaten die besagte Passarelle beschreiten. Es wird ein Bürgerbegehren und mehr Mitbestimmungsrechte des Parlamentes geben. Zentrale Macht bleibt der Rat, die Vertretung der nationalen Regierungen.

Von der Notgeburt zum historischen Traum

Übrigens, die Verfassung ist aus der Not geboren. Als sich die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 in Nizza nicht auf ein sinnvolles Abstimmungsverfahren einigen konnten, wälzten sie die Last auf einen Konvent ab, der das Problem grundsätzlich anpacken sollte. Der produzierte in kurzer Zeit zum Erstaunen vieler einen Verfassungstext, der dann von den Staats- und Regierungschefs wieder verwässert und komplizierter gemacht wurde. Nach getaner Arbeit jubelten die EU-Granden, ein historischer Traum sei in Erfüllung gegangen.

Zwölf Tage Crashkurs

Damit wir Journalisten wenigstens verstehen, wovon in der Verfassung die Rede ist, bieten EU-nahe Bildungsinstitute Seminare an, um in die Tiefe des Textes vorzudringen. Zwölf Tage würde man brauchen, wollte man sämtliche Seminare zu allen Teilen der Verfassung besuchen. Wer macht das schon?

Eine Umfrage bei Bundestagsabgeordneten, die vor zwei Wochen die Verfassung billigten, förderte erstaunliche Lücken in der Europakenntnis zutage. Hier ist dringend Lektüre angesagt, denn die nationalen Parlamente, und damit auch der Bundestag, erhalten mehr Mitwirkungsrechte. Die gab es bisher auch schon, bloß wurden sie vom Bundestag selten angewendet. Jetzt kann der Bundestag Klage vor dem Europäischen Gerichtshof führen, falls er das Subsidiaritätsprinzip verletzt sieht. Dieses Prinzip schreibt der EU vor, nur das gesetzlich zu regeln, was nationale Parlamente allein nicht sinnvoll regeln können.

Nebensache Inhalt

Die wenigsten Bürger, die in Volksabstimmungen über die Verfassung entscheiden, werden das Werk gelesen haben. In der Wahlkabine geht es um alles Mögliche, aber nicht um den Text. Sollten am Ende tatsächlich alle 25 Staaten die Verfassung ratifizieren und sie dann auch in Kraft treten, dann werde ich den Text noch einmal bis zum Ende durchwühlen. Versprochen. Lesen bildet ja bekanntlich. Aber angesichts der Stimmung in Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien, ist es wohl eher unwahrscheinlich, dass ich dieses Versprechen einlösen muss.

P.S. Und noch ein Verfassungsrätsel zum Schluss: Wie lauten die ersten Worte der Präambel? Was ist die letzte Bestimmung auf der letzten Seite? Antworten : "Seine Majestät der König der Belgier ...." und "Die Schreibweise des EURO in Ungarn und Lettland."