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Politik

Einwandererparadies Kanada

6. Januar 2017

Die Welt mag sich gegen Flüchtlinge und Migranten abschotten, Kanada geht einen anderen Weg - aus Überzeugung und Eigeninteresse.

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Familie Kurdi in Kanada angekommen Flüchtlinge Asyl Syrien Kanada
Bild: picture alliance/D.Dyck/The Canadian Press

Wenn irgendetwas das Jahr 2016 in der westlichen Welt geprägt hat, dann waren es Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottung. In den USA gewann Donald Trump die Wahl. Eines seiner wichtigsten Wahlversprechen: Er will eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen lassen. Eine Mehrheit der Briten stimmte für den Ausstieg aus der Europäischen Union, auch hier ging es vielen darum, die Einwanderung stärker kontrollieren zu können. Und in fast allen europäischen Ländern sind rechte Parteien auf dem Vormarsch, überall mit dem Ziel, Migranten abzuhalten.

Die wohl einzige größere Ausnahme ist Kanada. Der jetzige liberale Premierminister Justin Trudeau hatte die Wahl im Oktober 2015, auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise, auch mit dem Versprechen von mehr Einwanderung gewonnen. Er wollte auch mehr syrische Flüchtlinge aufnehmen. Sein konservativer Gegenspieler Stephen Harper hatte dagegen im Wahlkampf Stimmung gegen Muslime gemacht. Als Regierungschef hat Trudeau ankommende Syrer sogar am Flughafen mit Handschlag begrüßt.

Doch eine liberale Einwanderungspolitik insgesamt stand bei der Wahl gar nicht zur Debatte. Die hat in Kanada Tradition. Allerdings sucht sich das Land seine Einwanderer weitgehend selbst aus, Wirtschaftsmigranten ebenso wie Bürgerkriegsflüchtlinge. Jährlich sind es rund 300.000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von 36 Millionen.

Kanada Toronto Frau mit Hidschab
Gelebte Vielfalt: Hidschab-Modenschau in TorontoBild: Imago/Zuma Press

Das sind absolut und auch relativ zur Bevölkerung weniger als die Zahl derer, die 2015/16 nach Deutschland gekommen sind. Doch Kanada nimmt seit Jahren so viele Menschen auf. Und vor allem ist es in Kanada eine gewollte und gesteuerte Politik. Nicht jeder Kanadier ist mit der Politik einverstanden, es gibt auch vereinzelte Anschläge auf Moscheen oder Synagogen. Aber in Umfragen sagen 80 Prozent der Kanadier, dass Einwanderer das Land bereichern. Die Öffentlichkeit wie auch die großen Parteien sind der Meinung, dass Kanada die Einwanderungsraten halten oder sogar steigern sollte. Multikulturalismus ist Regierungspolitik und gilt hier längst nicht so vielen als Schimpfwort, wie in vielen europäischen Ländern.

Vielfalt statt Schmelztiegel

Die Vielfalt drückt sich zum Beispiel darin aus, dass nach der Volkszählung von 2001 in Kanada 33 ethnische Gruppen mit mindestens je 100.000 Mitgliedern leben und zehn Gruppen mit je mehr als einer Million Menschen. Gut 16 Prozent gehörten schon damals "sichtbaren Minderheiten" an. So bezeichnet das kanadische Statistikamt Menschen, die weder Ureinwohner sind, noch aus Europa stammen. Zehn Jahre später, 2011, waren es schon 19 Prozent. Prognosen zufolge wird die "sichtbare Minderheit" im Jahr 2031 33 Prozent der Bevölkerung stellen und sich damit langsam einem Anteil annähern, der kaum noch eine Minderheit ist.

Charles Foran, kanadischer Autor und Leiter des Instituts für kanadische Staatsbürgerschaft, begründet die Offenherzigkeit seiner Landsleute in der britischen Zeitung "The Guardian" auch mit praktischen Überlegungen: Seit den 1990er Jahren hätten eine niedrige Geburtenrate und eine alternde Bevölkerung die kanadische Wachstumsrate gebremst. Heute sei die einhellige Meinung: "Die Vielfalt fördert Wohlstand, sie untergräbt ihn nicht."

Anders als im "Schmelztiegel" USA, wo man davon ausgeht, dass Zuwanderer ihre mitgebrachte Identität in der gemeinsamen amerikanischen Kultur aufgehen lassen, lässt Kanada Vielfalt ohne Anpassungsdruck gelten. Weder Verschmelzung, noch das Streben nach einer homogenen Bevölkerung, wie in Europa, sind also in Kanada Ziel der Einwanderungs- und Integrationspolitik.

US Präsident Obama PK in Ottawa
Obama hat Trudeau (Mitte) gelobt: "Die Welt braucht mehr Kanada"Bild: picture-alliance/AP Photo/P. M. Monsivais

Das hat Folgen auch für die Identität: Premierminister Trudeau hat im Oktober 2015 im "New York Times Magazine" gesagt, Kanada werde möglicherweise der "erste post-nationale Staat" der Erde sein. Es gebe in seinem Land "keine Kernidentität". Dieser Satz löste bezeichnenderweise in Kanada keinerlei Wirbel aus. In Deutschland, wo über den Begriff der "Leitkultur" debattiert wird, dürfte man sich mit so einer Äußerung als Politiker ziemlich unbeliebt machen.

Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan, der auch den Begriff "globales Dorf" prägte, sagte schon 1963: "Kanada ist das einzige Land der Erde, das es versteht, ohne eine Identität zu leben." Charles Foran vom Institut für kanadische Staatsbürgerschaft glaubt, die Schwäche kanadischer Identität sei vielleicht genau das, was die Welt im 21. Jahrhundert brauche, denn sie erlaube eine "gesunde Flexibilität" und eine "Empfänglichkeit für Wandel".

Kanadas Antwort auf Donald Trump

Doch ist Kanada in seiner Haltung in Einwanderungsfragen wirklich die große Ausnahme und, wenn ja, bleibt es dabei? Die jüngste Umfrage des Instituts Angus Reid vom Oktober 2016 brachte Widersprüchliches zutage: So sagten 68 Prozent der Befragten, sie seien mit der Integration der Einwanderer, die sie kennen, zufrieden. Die gleiche Zahl war aber der Meinung, sie erwarteten von Minderheiten mehr Anpassung. Auch meinten 79 Prozent, die Einwanderungspolitik solle vor allem den wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Zielen Kanadas dienen und nicht dem Wunsch von Menschen, aus Krisengebieten zu fliehen.

Die konservative kanadische Politikerin Kellie Leitch glaubt bereits an eine Wende und versucht, Donald Trump nachzuahmen. "Die Eliten tun so, als wäre Einwanderung kein Thema", wettert sie ganz im Stil des künftigen US-Präsidenten. Sie verlangt eine Sicherheitsprüfung für alle Einwanderer und hat dabei vor allem Muslime im Blick. Noch hat Leitch nicht mal den Vorsitz der Konservativen Partei in der Tasche, über den im Mai entschieden wird. Aber in Umfragen liegt sie in ihrer Partei vorn. Wenn sie Parteichefin wird, will sie bei der nächsten Wahl Trudeaus Liberale schlagen. "Es könnte durchaus populistische Überraschungen in Kanada geben", glaubt Frank Graves vom Forschungsinstitut EKOS zu Leitchs Aussichten. "Die Kräfte, die den Brexit und Trump angetrieben haben, wirken auch in Kanada - nur etwas gedämpfter."