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Migrationsjahresgutachten 2011

13. April 2011

Deutschland ist ein Einwanderungsland, dem Immigranten fehlen. Vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte mieden das Land zuletzt. Experten fordern daher ein zügiges Umsteuern in der Zuwanderungspolitik.

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Junge Migrantinnen lernen Deutsch (Foto: dpa)
Bildung muss ein wichtigeres Kriterium werdenBild: picture alliance / dpa
Flüchtlinge vor Lampedusa (Foto: picture alliance/dpa)
Die jüngste Flüchtlingswelle auf dem Mittelmeer hat die Migrationsdebatte in Deutschland wieder entfachtBild: picture alliance/dpa

Deutschlands Integrations- und Zuwanderungspolitik muss "runderneuert" werden. Zu diesem Urteil kommen die Gutachter des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in ihrem Jahresgutachten 2011. Zu mutlos, zu undurchdacht und zu wenig visionär erscheinen den Gutachtern bislang die politischen Lösungen einer der zentralen Zukunftsfragen des Landes.

Einwanderungsland ohne Einwanderer

Lange wurde politisch darum gerungen, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland sei. Diese teils fremdenfeindlich geführte Debatte, angeheizt durch die polemischen Thesen des einstigen Bundesbankers Thilo Sarrazin, sowie falsche politische Weichenstellungen hätten jetzt Fakten geschaffen, sagt der Vorsitzende der Kommission, Professor Klaus Bade. "Deutschland hat innerhalb von 15 Jahren, also zwischen 1994 und 2009, insgesamt über eine halbe Million Staatsbürger mehr ans Ausland abgegeben als im gleichen Zeitraum von dort zugewandert sind." Abwandern würden aus Deutschland vor allem Hochqualifizierte, zuwandern dagegen bislang nicht die besten Köpfe, sondern allenfalls die zweitbesten, resümiert der Forscher und macht dafür auch die gestiegene Attraktivität von Schwellenländern wie China oder Indien oder den noch immer ungebrochenen Reiz der Vereinigten Staaten verantwortlich.

Mikhail Yerunov (Foto: Mikhail Yerunov)
Menschen wie Mikhail Yerunov, Ingenieur aus Usbekistan, wird Deutschland in Zukunft noch mehr brauchenBild: Mikhail Yerunov

Die Botschaft des am Mittwoch (13.04.2011) in Berlin vorgestellten Migrationsjahresgutachten 2011 ist daher eindeutig: Deutschland muss vor allem für hochqualifizierte Zuwanderer attraktiver werden, wenn es im Wettkampf um die besten Köpfe der Welt nicht abgehängt werden will. Dem Land droht ansonsten ein "Brain Drain", also ein Verlust von Humankapital, der angesichts der dramatisch alternden und schrumpfenden Gesellschaft zur Gefahr für die sozialen Sicherungssysteme und den Industriestandort werden könnte.

Frau mit Kopftuch schreibt das Wort 'Integration' auf eine Tafel (Foto: dpa)
Die Deutschen haben ein sehr pragmatisches Bild von der Integration von Zuwanderern, sagt das Jahresgutachten 2011Bild: dpa

"Modellrechnungen zufolge könnten in Deutschland schon in vier Jahren bis zu drei Millionen Arbeitskräfte fehlen, ungefähr so viele wie es derzeit in diesem Land noch Arbeitslose gibt", sagt Bade. Das Land werde dann förmlich gezwungen sein, sein im Prinzip zwar funktionstüchtiges, aber noch immer zu wenig effizientes System der Zulassung von Fachkräften zu reformieren. Der Sachverständigenrat fordert den gezielten Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften zu erleichtern. Dafür gebe es sogar Rückhalt in der Gesellschaft, sagt Gunilla Fincke, Geschäftsführerin des Sachverständigenrates. Sie zitiert dabei die Ergebnisse des Migrationsbarometers, einer repräsentativen Umfrage unter 2450 Personen mit und ohne Migrationshintergrund. "Insbesondere für den Fall der Zuwanderung von Hochqualifizierten gibt das Migrationsbarometer grünes Licht für mutige Reformen, die Bevölkerung ist bereit dazu." 60 Prozent der Befragten befürworteten eine gezielte, wohlorganisierte Zuwanderung, sagt Fincke - ebenso wie vor allem die höher gebildete Elite des Landes den Zuzug von Flüchtlingen aus humanitären Krisengebieten befürwortet.

Ein Punktesystem für Zuwanderer wird kommen

Damit die hochqualifizierten Migranten den Weg nach Deutschland finden, müssten unnötige bürokratische sowie mentale Hürden fallen, sagt das Gutachten weiter. Dazu gehört laut Vorsitzendem Klaus Bade eine Senkung der Mindesteinkommensgrenze für ausländische Hochqualifizierte von derzeit 66.000 Euro auf circa 40.000 Euro Jahresbrutto. Außerdem brauche es eine gezielte "Bleibepolitik" gegenüber internationalen Studierenden, denn sie seien die ideale Zuwanderergruppe für das Know-how-Land Deutschland. Und letztlich werde ein Gesamtkonzept einer Einwanderungspolitik benötigt, das auch Menschen ohne konkrete Jobzusage ins Land hereinlasse. Als Vorbild könnte laut Gutachten hier ein Punktesystem nach dem Modell Kanadas oder Österreichs dienen. Zielgruppe eines ersten Modellversuchs, der anschließend wissenschaftlich evaluiert werden sollte, könnte die MINT-Branche sein, also Berufe aus dem Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Hier sei ein latenter Fachkräftemangel bei Ingenieuren und Maschinenbauern bereits jetzt unübersehbar.

DW-Grafik: Per Sander

Die Gutachter warnen allerdings davor, die Suche nach neuen Fachkräften auf den europäischen oder generell westlichen Kulturkreis zu beschränken. Die Rekrutierungsgebiete potenzieller Zuwanderer werden sich in der Zukunft noch weiter nach Süden und Osten verlagern, ist sich Professor Klaus Bade sicher: "Dazu zählen neben migrationspolitisch heute noch unbedeutenden Räumen wie Zentralasien oder Südostasien gerade auch die neuen Schwellenländer in Nordafrika mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung, hier insbesondere Tunesien, Marokko und Ägypten." Dass die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik angesichts der aktuellen Umbrüche in Nordafrika eher einer Migrationsbekämpfung gleiche, könnte sich daher langfristig als großer Fehler herausstellen. Die Gutachter schlagen vor, auch auf der Ebene der EU in überschaubarem Maße legale Zuwanderungswege einzurichten. Nur wenn viele Wege offen stünden, fänden die Besten wirklich den Weg nach Deutschland.

Autor: Richard Fuchs
Redaktion: Thomas Grimmer