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Endlich angekommen

Nicole Grün, Washington D.C.21. Januar 2009

Seit Jahrhunderten kämpfen Afroamerikaner in den USA um Gleichberechtigung. Mit Obama wurde einer von ihnen Präsident. Hunderttausende kamen zur Inauguration, um Martin Luther Kings Traum in Erfüllung gehen zu sehen.

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Bild: DW

Ihr grell orangefarbener Parka sticht ins Auge, wie auch der knallrote Lippenstift, der sich markant von ihrer schwarzen Haut abhebt. Erschöpft lehnt sie an einem Pfosten, ihre braunen Augen blicken müde. Kein Wunder: Um Mitternacht ist Ruby Singleton Blakeney in ihrem Heimatort Annapolis, Maryland, in den Zug Richtung Washington gestiegen, um heute bei Barack Obamas Vereidigung als 44. Präsident der Vereinigten Staaten dabei zu sein.

"Worte können nicht ausdrücken, was ich gerade fühle", sagt Blakeney, die in den letzten Monaten Obamas offizielles Kampagnenbüro in Annapolis geleitet hat. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Tag erleben werde." Den Tag, an dem ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten wird – bis vor wenigen Monaten hätte sie davon nicht einmal zu träumen gewagt. Gedankenverloren blickt sie auf die Leinwand vor dem Washington Monument, auf dem gerade Obamas Wagenkolonne zu sehen ist. Jubel brandet auf, "Obama! Obama!"- Rufe übertönen das Stimmengewirr aus den Lautsprechern. Niemanden hier scheint es zu stören, es an diesem Vormittag nicht näher an das Kapitol geschafft zu haben, den Ort der Vereidigung.

12.000 Dollar für ein Hotelzimmer

Nur 125.000 Normalsterbliche ergatterten Eintrittskarten für die Zeremonie am Kapitol, doch den Platz an der Sonne mussten auch sie sich hart erkämpfen. Schon vor Sonnenaufgang bildeten sich lange Schlangen vor den zahlreichen Sicherheits-Checkpoints, und das bei Minusgraden. Die bisher schärfsten Sicherheitsvorkehrungen in der Inaugurations-Geschichte verboten es sogar, Taschen, Thermosflaschen oder Kinderwägen in die Sicherheitszone mitzubringen. Da alle Brücken über den Potomac für den normalen Verkehr gesperrt waren, war es fast unmöglich, von außerhalb in die Stadt zu kommen. Viele sattelten daher auf Fahrräder um oder übernachteten gleich in ihren Büros in Washington. Wer in letzter Minute ein Hotelzimmer in der Nähe des Kapitols buchen wollte, musste bis zu 12.000 Dollar pro Nacht berappen. Und clevere Washingtonians haben der Stadt schon am Wochenende vor den Feierlichkeiten den Rücken gekehrt und vermieten ihre Appartements an Inaugurations-Touristen, die nicht selten eine Monatsmiete pro Nacht hinblättern, um den Wandel live mitzuerleben.

"Durch Obama hat sich schon jetzt vieles verändert, sieh dich nur um", sagt Blakeney und deutet auf all die Schwarzen in der Menge, auf die Oma im Rollstuhl mit Obama-Mütze und Nerzmantel oder den coolen Hiphopper mit Baseballkappe und Goldzähnen. Schon in den letzten Tagen waren immer mehr von ihnen in die Stadtteilen rund um die National Mall gekommen. Nur fünf Meter entfernt hat sich eine schwarze Familie neben einem asiatischen Ehepaar und einem Filipino auf einer Picknickdecke niedergelassen. "All diese Nationalitäten auf einem Platz - das ist es, was Amerika ausmacht", sagt Blakeney. Ein in Lumpen gekleideter Farbiger kommt vorbei und reckt ein Schild in die Höhe, auf dem steht: "Wir sind alle 400 Jahre lang gereist, um endlich hier anzukommen."

"Obama gibt uns Hoffnung"

Endlich ist auch Obama auf den Stufen des Kapitols angekommen und winkt vergnügt in die Kameras. "Oh, er schaut so gut aus", seufzt eine blonde Studentin, die sich zuvor noch über die Buh-Rufe beim Erscheinen von George W. Bush beschwert hat. Viele lachen amüsiert, als Obama beim Schwören des Eides erst wie ein übereifriger Schuljunge dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ins Wort fällt und dann kurzzeitig seinen Text vergisst. Als er seine Antrittsrede beginnt, ist jede Unsicherheit vergessen. Obamas Worte kommen an, sie fesseln die mehr als eine Million Zuhörer auf der grünen Meile Washingtons. "Er gibt uns Hoffnung", sagt die junge Ruby, deren Vorfahren als Sklaven in die Vereinigten Staaten kamen. "Jetzt werden wir noch härter arbeiten, um seine Ziele zu erreichen."

Auch Cameron und Margaret Bonner aus New York sind von der Zeremonie berührt. Cameron zeigt auf die beiden Anstecker auf seiner grünen Daunenjacke – auf einem prangt Martin Luther Kings Gesicht, auf dem anderen Obamas. "1963 bin ich mit Martin Luther King nach Washington marschiert und heute musste ich einfach hierher zurückkommen, um seinen Traum in Erfüllung gehen zu sehen", sagt der ehemalige Regierungsangestellte mit Tränen in den Augen. Und seine Frau Margaret fügt hinzu: "Auf unseren Reisen haben wir uns in den vergangenen Jahren immer als Kanadier ausgegeben. Jetzt sind wir wieder stolz darauf, Amerikaner zu sein."

Als schließlich all die stolzen Amerikaner gleichzeitig von der National Mall wollen und sich ein steter Menschenstrom bildet, dem niemand entkommen kann, fliegt ein Regierungshubschrauber über ihre Köpfe hinweg: wahrscheinlich George W. Bush mit seiner Frau Laura. Die Leute buhen. Einer brüllt: "George W., go back to Texas!" Und die Menge singt fröhlich John Caffertys: "Na na na na, hey hey-ey, goodbye".