1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Endstation Knast

11. September 2009

Im US-Bundesstaat New York sitzen 60.000 Menschen im Gefängnis. Die meisten kommen aus der Bronx, Harlem oder Queens, die Gefängnisse aber liegen weit außerhalb. Den Angehörigen hilft jetzt ein besonderes Projekt.

https://p.dw.com/p/Jd0k
Bus (Archiv) (Foto: ap)
Ein Spezialbus fährt die Angehörigen ins Gefängnis (Foto: Archiv)Bild: AP/DW

Der Broadway, Ecke 58. Straße. In der Regel verirren sich nicht viele New Yorker an einem späten Samstagabend in diese Bürogegend. Schon gar nicht, um auf einen Bus zu warten. Jetzt aber haben sich mehrere hundert Menschen eingefunden. Und alle haben nur ein Ziel: Den Knast. Denn sie alle haben Angehörige im Gefängnis, und nur am Sonntag erlaubt ihnen der Bundesstaat New York, ihre Verwandten im Gefängnis zu besuchen.

Ray Simmons (Foto: Ray Simmons)
Ray Simmons hat "Operation Prison Gap" gegründetBild: Ray Simmons

Ray Simmons sorgt dafür, dass sie dorthin kommen. Sein Busunternehmen "Operation Prison Gap" bedient ausschließlich Familienangehörige von Gefängnisinsassen. Auf die Idee kam Ray, weil er als Jugendlicher selber einmal gesessen hat. "Während der ganzen vier Jahre habe ich nur viermal Besuch bekommen", erzählt er. "Damals gab es nur die regulären Reisebusse, die konnte meine Familie sich nicht leisten, und das Ganze war auch sehr erniedrigend für sie. Weil sie schwarz waren, hieß es gleich: Ach ja, die fahren zu ihresgleichen ins Gefängnis!"

"Ich vermisse ihn so"

Victoria steht inmitten ihrer vielen Taschen und zieht sich den Lidstrich nach. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Verlobten. Er hat mit Drogen gehandelt und sitzt nun im Gefängnis. Für die 38 jährige ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihn jeden Sonntag besuchen geht. "Telefonieren ist so teuer, deshalb überbrücken wir die Tage zwischen den Besuchsnachmittagen mit schreiben, das sind jedes Mal 25-30 Seiten", sagt sie. "Ich vermisse ihn so sehr, ich kann es kaum erwarten, dass er wieder nach Hause kommt."

Küsse im Hochsicherheitstrakt

Gefängnis (Foto: ap)
Hinter hohen Stacheldraht-Zäunen warten die Insassen auf ihre FamilieBild: AP

Die meisten Fahrgäste an diesem Abend sind Frauen, manche haben ihre Kinder dabei. Lisa, die aus Brooklyn kommt, nimmt ihr 7-jähriges Töchterchen nicht mehr mit. Zu traumatisch sind die Erfahrungen im Knast. Ihr Mann ist wegen Totschlags verurteilt und sitzt in einem Hochsicherheitstrakt. "Er will nicht, dass die Kleine ihn so sieht", sagt Lisa. "Sie hat viel geweint beim letzten Mal, sie spürt natürlich, dass etwas nicht stimmt. Die sind sehr streng dort, selbst mit den Mahlzeiten. Wenn mein Mann nicht alles aufisst, dann muss er die Reste den ganzen Tag lang in seiner Hosentasche mit sich rumtragen - egal ob das nun Bohnen oder Würste sind."

Es kommt Bewegung in die Menge, die Tickets werden verteilt. Die Busse von Operation Prison Gap fahren rund ein Dutzend Gefängnisse im US-Bundesstaat New York an. Die Hin- und Rückfahrt kostet je nach Entfernung zwischen 40 und 60 Dollar.

Hühnchen und Donuts

Ramiro prüft, ob seine Mutter nichts vergessen hat. Die 71-jährige fährt jede zweite Woche bis an die kanadische Grenze. Dort verbüßt ihr anderer Sohn eine langjährige Haftstrafe. Die Reisetasche von Mrs. Rodriguez ist vollgestopft mit Lebensmitteln: Die Hühnchen hat sie selber gekocht, die Konserven und Donuts hat Ramiro gekauft. "Ich helfe, wo ich nur kann", sagt er. "Diesmal habe ich Ohrenstöpsel besorgt, damit meine Mutter schlafen kann im Bus. Jetzt muss ich noch mit dem Fahrer reden, ob er ihr einen besseren Platz geben kann: Sie hat Magenprobleme und würde deshalb gerne nah an der Toilette sitzen."

Festnahme New York (Foto: Achiv / ap)
Viele Straftäter New Yorks kommen aus der Bronx, Queens oder HarlemBild: AP

500 Passagiere beanspruchen jedes Wochenende die Dienste von Operation Prison Gap. Manche sind bis zu 10 Stunden lang unterwegs - nur um ein kurzen Nachmittag mit ihren Angehörigen zu verbringen. Kein Aufwand ist ihnen zu groß.

Bodylotion in der Unterhose

Vier Minuten vor Abfahrt. Lisa spricht noch einmal am Handy mit ihrem Töchterchen, das bei den Großeltern übernachtet. Dann rückt sich die stämmige Mexikanerin nervös die Lockenwickler zurecht. Die wird sie erst kurz vor der Ankunft im Gefängnis abnehmen. Ihre dunklen Augen blitzen vor Vorfreude. "Ich werde mich auch noch umziehen, ich habe extra zwei Outfits dabei, weil ich mich nicht entscheiden konnte", erzählt sie. "Außerdem habe ich eine kleine Tube Bodylotion in meiner Unterhose versteckt! Eigentlich darf ich die nicht mit in den Knast nehmen, aber schließlich will ich ja gut riechen, wenn wir uns sehen und küssen."

Um Punkt Mitternacht ist Abfahrt. Bald wird der Bus mit den Familienangehörigen zum kleinen schwarzen Punkt, bis er schließlich ganz zwischen den hell erleuchteten Broadways und Wolkenkratzern von Manhattan verschwindet.

Autorin: Beatrice Ürlings
Redaktion: Anna Kuhn-Osuis