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"Entfesselte nationale Emotionen"

12. April 2002

– Tschechische Intellektuelle werfen der politischen Elite Missbrauch der Benes-Dekrete für Wahlkampfzwecke vor

https://p.dw.com/p/256n

Prag, 11.4.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch

Fast 250 Bürger Tschechiens, darunter Politologen wie Rudolf Kucera, Jirina Siklova und Bohumil Dolezal, Theologen und Philosophen wie Tomas Halik, Milos Rejchrt und Jan Sokol, Publizisten und Journalisten wie Petr Uhl, Pavel Safr, Martin Schmarcz, Petr Prihoda und Vaclav Zak unterschrieben einen Aufruf an die Abgeordneten des Parlaments. Dieser ist eine Reaktion auf den Versuch der politischen Parteien, die schmerzhaften Probleme der Vergangenheit - insbesondere die Benes-Dekrete - im Wahlkampf zu missbrauchen. Wir veröffentlichen den vollen Wortlaut des Aufrufs:

"Die Abgeordnetenkammer des Parlamentes der Tschechischen Republik soll auf Vorschlag ihres Vorsitzenden Vaclav Klaus und des Premiers Milos Zeman eine eindeutige Stellung zu denjenigen Dekreten des Präsidenten der Republik von 1945 einnehmen, die die Grundlage für die Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei vorbereitet haben. Den Initiatoren zufolge sollte in der Abgeordnetenkammer verabschiedet werden, dass es um Dinge des grundlegenden nationalen Interesses ginge und dass das tschechische politische Spektrum darin einig sei.

Die Dekrete des Präsidenten der Republik sowie die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei stellen ein schmerzliches Problem dar, worüber in der tschechischen Gesellschaft, und zwar auch auf politischer Ebene, eine offene Debatte zu führen ist. Statt dessen sind wir Zeugen eines Versuches, entfesselte nationale Emotionen zur Demonstration einer falschen nationalen Einheit auszunutzen, die den Antragstellern Punkte in der Vorwahlkampagne einbringen soll. Es droht dabei die Gefahr, dass dadurch die politische- und die Meinungsvielfalt in der tschechischen Gesellschaft schlechthin eingeschränkt, die Beziehungen zu unseren Nachbarn geschädigt und auch unser EU-Beitritt kompliziert werden.

Wir appellieren an die Abgeordneten des tschechischen Parlaments, ohne Rücksicht auf ihre parteipolitische Zugehörigkeit und ihre Meinung über die Dekrete und die Aussiedlung der Deutschen, dass sie politischen Mut zeigen und weitere Versuche, nationalistische Emotionen zu entfachen und die politische Freiheit sowie die Meinungsfreiheit einzuschränken, eindeutig ablehnen. Prag, den 8. April 2002" (ykk)