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Politik

Erdogan gegen Atatürk

11. April 2017

Durch das anvisierte Präsidialsystem will Erdogan nicht nur das politische System der Türkei verändern. Indem er an islamische Traditionen anknüpft, zeigt er sich als Gegenspieler zu Atatürk, dem Gründer der Republik.

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Recep Tayyip Erdogan Präsident Türkei
Bild: picture-alliance/AP Images/K. Ozer

Die Bitte des Kalifen war bescheiden. Beim Freitagsgebet, erklärte er, würde er gerne einen Turban im Stil von Sultan Mehmed II. aus dem 15. Jahrhundert tragen. Ob der Präsident etwas dagegen habe, wollte er wissen. Dieser, erst wenige Monate im Amt, gab eine brüske Antwort: Der Kalif solle doch lieber einen Gehrock tragen, wie er bei modernen Staatsmännern üblich sei. Überhaupt, erklärte er wenig später, sei das Kalifat "Nonsens".

Die Szene, die der türkische Historiker Şükrü Hanioglu in seiner Biographie des ersten Präsidenten der türkischen Republik, Mustafa Kemal - später genannt "Atatürk" - , schildert, ist symptomatisch für die ebenso entschlossene wie rüde Art, in der dieser gegen die religiösen und politischen Traditionen des gerade untergegangenen Osmanischen Reichs vorging. Ähnlich rigoros war Kemal auch vorgegangen, als er dafür plädierte, den für die türkische Nationalversammlung zuständigen Imam abzuschaffen. "So etwas wie Gebete brauchen wir hier nicht", begründete der Präsident seinen Vorstoß. Für Kemal, schreibt Hanioglu, habe es im Grunde nur eine Religion geben: eine säkulare, die Religion der Republik.

Sechs Nullen weniger
Bis heute präsent: Republik-Gründer Mustafa Kemal, hier auf einem GeldscheinBild: AP

Schmerzhafte Reformen

Entsprechend reserviert zeigten sich weite Teile der Bevölkerung. Die gebildete Elite in den Städten mochte Kemals Reformen zujubeln, die traditionell eingestellte Mehrheit hingegen wollte nicht von ihnen wissen. Dass die Schwurformel vor Gericht nicht mehr auf Gott, sondern die eigene "Ehre" abgelegt wurde; dass überhaupt die türkische Justiz in wenigen Jahren alle religiösen Bezüge verloren hatte; dass der Laizismus 1937 zu einem Grundprinzip der Republik erklärt wurde: An all dem nahmen sie ebenso Anstoß wie an den anderen Reformen: der Einführung des Gregorianischen Kalenders; des Austauschs des Fes durch den europäischen Hut; der Ersetzung der arabischen durch die lateinische Schrift; die Einführung des Sonntags als neuer Wochenfeiertags anstelle des Freitags; und die Einführung des Frauenwahlrechts 1934.

Mustafa Kemal, genannt Atatürk ("Vater der Türken"), ging als Modernisierer in die Geschichte der türkischen Republik ein, als deren bedeutendster Repräsentant er bis heute gilt - jedenfalls im offiziellen Gedenken. Tatsächlich aber, schreibt der Historiker Hanioglu, hätten Kemal und seine Mitstreiter die Realität der türkischen Gesellschaft verkannt. "Die Führung der frühen Republik unterschätzte … auf das Sträflichste die Widerstandskraft der sozialen Netze in einer muslimischen Gesellschaft. Wie so viele europäische Intellektuelle des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts waren sie der festen - aber in der Rückschau trügerischen - Überzeugung, die Religion werde schon bald nicht mehr als eine vage Erinnerung aus der fernen Vergangenheit sein."

Hagia Sofia Mosque Türkei Istanbul
Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne: die Hagia Sophia Moschee in Istanbul, heute ein MuseumBild: AFP/Getty Images

Der Gegenspieler

Wenn nun der derzeit amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan ein neues Präsidialsystem durchzusetzen versucht, dürfte er das auch mit Blick auf Mustafa Kemal tun, vermutet der Diplom-Geograph Caner Aver vom Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung. Womöglich, nimmt er an, wolle Erdogan als der nach Atatürk wichtigste Staatsmann in die Geschichte eingehen. Und noch etwas treibe ihn: "Er will die absolute Macht. Dafür braucht er eine Verfassungsänderung. Denn nur so ließe sich das De-facto-Präsidialsystem verfassungsmäßig absichern." Dazu passe, dass man im Jahr 2023 den 100. Jahrestag der Türkei feiern werde. "Dann möchte Erdogan als der große starke Mann gelten, der die Türkei aus der aktuellen Krisensituation sowohl im Inland als auch im Konflikt mit den Nachbarländern heraus- und in die Zukunft hineingeführt hat." Ob das so kommen werde, bleibe freilich abzuwarten.

Um hinreichend Unterstützung für das geplante Präsidialsystem zu erhalten, visiert Erdogan eben jene Bevölkerungsmehrheit an, die den Reformen Mustafa Kemals seit inzwischen über hundert Jahren ablehnend gegenüber steht. Dazu betreibt er auch eine entschlossene Symbolpolitik. So ließ er auf einem Hügel über dem Bosporus eine große Moschee errichten; er erhöhte die Steuern auf Alkohol und verbot dessen Ausschank in der Nähe von Moscheen; vielen Wirten auch in den europäisch geprägten Vierteln macht er damit das Leben schwer. Zugleich setzte er durch, das Frauen in staatlichen Einrichtungen - etwa in Universitäten, Gerichten und im Parlament - wieder ein Kopftuch tragen dürfen.

Taksim Platz Gezi Park Istanbul Türkei
Im Namen der Republik: Demonstranten mit einem Porträt Mustafa Kemal AtatürksBild: Reuters

Abstimmung über kulturelle Identität

Ideologisch, so Caner Aver, entstamme Erdogan dem national-konservativ-religiösen Milieu. "Wenn er also seine Ziele erreicht, werden wir wohl im Staatsapparat verstärkt entsprechenden Elementen begegnen." Zwar sei es eher unwahrscheinlich, dass das Land tatsächlich eine islamische Republik werde. "Allerdings wird der Tenor des national-konservativ-Islamischen in den Strukturen und möglicherweise auch in der Gesetzgebung, im öffentlichen Leben, im Bildungswesen und im akademischen Betrieb stärker zu spüren sein als heute."

Erdogan will die Türkei politisch neu ordnen. Diesen Umbau betreibt er auch mit kulturellen Mitteln. Durch sie definiert er sich als ideologische Gegenkraft zu Mustafa Kemal. Die Türkei, so beschreibt es der Historiker Hanioglu, war kulturell nur an der Oberfläche modern. Die konservativen Energien, die in dem Land schlummern, macht sich Erdogan nun zunutze. Die Abstimmung über das Präsidialsystem ist darum auch eine über die kulturelle Identität des Landes.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika