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Erdogans Revanche

10. März 2003

Knapp 120.000 Nachwähler schrieben am Sonntag (9.3.) türkische Geschichte: Der Vorsitzende der Regierungspartei AKP, Recep Tayyip Erdogan, ist in Siirt zum Abgeordneten gewählt worden und wird neuer Ministerpräsident.

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Recep Tayyip Erdogan vor Übervater Kemal AtatürkBild: AP

Oberflächlich betrachtet, hatten die Wähler in der südostanatolischen Provinz Siirt nur über die drei Abgeordneten zu entscheiden, die ihnen in der Nationalversammlung in Ankara zustehen. In Wirklichkeit bestimmen sie mit ihrem Kreuz auf dem Wahlzettel über den künftigen Ministerpräsidenten des Landes. Denn der mächtigste Politiker der Türkei und Vorsitzender der Regierungspartei (AKP), Recep Tayyip Erdogan, bewarb sich bei einer Nachwahl in der Provinz Siirt um ein Parlamentsmandat – und ging als Sieger hervor.

Erdogan lässt sich von der Macht nicht fernhalten

In Washington, Moskau, Peking und zahlreichen europäischen Hauptstädten wurde Recep Tayyip Erdogan bereits wie ein Regierungschef empfangen, als ihm in der Türkei noch jedes Recht auf ein öffentliches Amt bestritten wurde. Noch Anfang dieses Jahres 2003 stellte das Verfassungsgericht in Ankara fest, dass der neue starke Mann der Türkei, der die islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im November 2002 an die Macht geführt hatte, juristisch betrachtet nicht einmal Parteichef sei.

Allerdings ist Erdogan kein Unschuldslamm: Er konnte bei der Parlamentswahl 2002 nicht zum Ministerpräsident gewählt werden, da er 1999 wegen islamistischer Hetze verurteilt worden war. Erst eine Verfassungsänderung erlaubt es inzwischen, dass er auch als Vorbestrafter Ministerpräsident werden darf. Letztlich haben also alle Fußfesseln, mit denen der frühere Islamist von den Hebeln der Macht fern gehalten werden sollte, nichts genutzt. Der Übernahme der Regierung steht nichts mehr im Wege.

Siirt in unguter Erinnerung

Dass sich Erdogan ausgerechnet bei einer Nachwahl in der kleinen, rückständigen Südostprovinz Siirt den Lorbeerkranz des Siegers aufsetzen ließ, hat für den 49-Jährigen eine ganz besondere Bedeutung. In Siirt nämlich zitierte Erdogan im Dezember 1997 die Verse "Die Minarette sind unsere Bajonette...", die ihm politisch zum Verhängnis wurden. Sie brachten ihm eine zehnmonatige Haftstrafe wegen religiöser Volksverhetzung ein, kosteten ihn den Posten des Oberbürgermeisters von Istanbul und schienen sein politisches Ende besiegelt zu haben. Mit den Stimmen der Wähler in Siirt nahm Erdogan jetzt Revanche gegen den türkischen Staat.

Entscheidung über Truppenstationierung steht an

In der Siegerpose wird sich Erdogan angesichts der dunklen Wolken über dem Nachbarland Irak allerdings nicht lange sonnen können. Bei ihrem Antritt vor 100 Tagen schien die AKP-Regierung dank einer komfortablen Mehrheit und günstiger Konjunkturaussichten nach fast zwei Jahren schwerer Wirtschaftskrise noch auf Rosen gebettet. Das hat sich mit dem drohenden Irak-Krieg schlagartig geändert. Sobald Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten von Abdullah Gül übernimmt, steht er vor der schwierigen Aufgabe, die Widerstände in der Bevölkerung gegen eine Unterstützung der USA zu überwinden und das Nein des Parlaments zur Stationierung von 62.000 US-Soldaten revidieren zu lassen. Nicht Abdullah Gül, wohl aber Erdogan könne später der Makel anhaften, die Türkei in den Krieg geführt zu haben. (arn)