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Die Kinder vom Kamper See

7. März 2012

Millionen von Menschen flüchteten Ende des Zweiten Weltkrieges vor der Roten Armee. Viele kamen dabei um – auch die "Kinder vom Kamper See“ in Polen. Dieser Tragödie wird jetzt zum ersten Mal gedacht.

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Kränze am Kamper See (Foto: Joanna Pieciukiewicz/DW)
Kränze am Kamper SeeBild: DW

"Es war dasselbe Wetter wie heute, kalt und sonnig. Ich war damals 14, aber ich erinnere mich noch so daran, als ob es gestern gewesen wäre. Vor meinen Augen stürzte das Flugboot Dornier-24 in den See. In ihm befanden sich die Besatzungsmitglieder und fast 80 Kinder", erzählt der 81-jährige Hans-Dietrich Werner mit Tränen in den Augen. Er war ein Augenzeuge der Tragödie, die sich am 5.3.1945 am Kamper See (heute Resko Przymorskie) in der damaligen deutschen Ostprovinz Hinterpommern (heute Westpolen) abgespielt hatte.

An dem Tag war der damals 14-jährige Hans-Dietrich Werner mit seiner Familie auf der Flucht vor der Roten Armee. Sie befand sich nun in der Gegenoffensive, nachdem sie in den Jahren zuvor die Angriffe der deutschen Wehrmacht erfolgreich abgewehrt hatte. Auf dem damaligen Fliegerhorst am Kamper See warteten tausende deutsche Zivilisten auf den Flugtransport in den Westen, denn sie fürchteten Rache und Vergeltung der Roten Armee für die Gräueltaten der deutschen Soldaten während des sogenannten "Russland-Feldzugs" 1941 - 1945. Unter den Flüchtenden waren auch Kinder aus deutschen Großstädten, die Nazi-Deutschland im Rahmen der sogenannten "Kinderlandverschickung" ab Oktober 1940 vor den Bombardements der Alliierten in ländlichen Gebieten in Sicherheit gebracht hatte. Nun flüchteten sie zusammen mit hunderttausenden Deutschen in Richtung Westen.

Geistliche verschiedener Konfessionnen während der Gedenkveranstaltung am Kamper See (Foto: Joanna Pieciukiewicz/DW)
Geistliche verschiedener Konfessionnen während der Gedenkveranstaltung am Kamper SeeBild: DW

Auf der Flucht vor der Roten Armee

In der Hektik und im Chaos der Flucht gab es jedoch keine Passagierlisten. "Dafür war einfach keine Zeit. Alle wollten diese Hölle verlassen. Meiner Meinung nach ist das Flugboot abgestürzt, weil es hoffnungslos überladen war. Es gibt aber auch Leute die sagen, dass die Russen das Flugzeug abgeschossen hätten. Ich leide bis heute unter der Tragödie dieser unschuldigen Kinder", erzählt Hans-Dietrich Werner.

Doch trotz der Katastrophe gingen die Flugtransporte in den Westen damals, 1945, weiter. Hans-Dietrich Werner und seine Familie sind an Bord der nächsten Dornier gestiegen und kamen so unversehrt nach Stralsund. "Ob ich Angst hatte? Und wie. Aber das, was mir auf dem Boden zustoßen konnte war schlimmer. Ich wäre beinahe von meiner Familie getrennt worden. Nach dem Absturz hatte man die Zahl der Passagiere begrenzt. Meine Tante flehte damals die Besatzung an: ´Lasst ihn an Bord kommen, es ist mein Kind´."

Das Dornier-Flugboot Do 24 (Foto: Salome Kegler dpa/lhe)
Dornier Do 24 - Im Flugzeug dieser bauart waren die "Kinder vom Kamper See"Bild: picture-alliance/dpa

Keine Gedenkfeier bis heute

Nach dem vom Hitler-Deutschland entfesselten Krieg wurden die einst deutschen Ostgebiete zu polnischem Staatsgebiet. Die Tragödie der "Kinder vom Kamper See“ wurde Jahrzehnte lang verschwiegen. Bis in die 90er Jahre nutzten die sowjetischen Truppen den ehemaligen deutschen Fliegerhorst. Die Gegend um den See war militärisches Sperrgebiet. Die Dorfbewohner haben jedoch mehrmals beobachtet, wie russische Soldaten den See durchsucht hatten. Es ging dabei aber wahrscheinlich nicht um die toten Kinder - eher suchte man Wertgegenstände, die sich angeblich an Bord der Transportflugzeuge befunden hatten.

Hans-Dietrich Werner kam nun an den Ort der Tragödie zurück, um an der Gedenkfeier zum 67. Jahrestag der Flugkatastrophe teilzunehmen. Die Feierlichkeiten wurden von der deutsch-polnischen Initiative "Kinder vom Kamp" und dem Bürgermeister der nahen Stadt Trzebiatow (früher Treptow) organisiert. "Diese Geschichte ließ mir keine Ruhe“, erzählt der Bürgermeister des Ortes, Zdzislaw Matusewicz. „Jedes Mal, wenn ich durch diese Gegend fuhr, habe ich gedacht, wie unmenschlich es ist, diese Kinder auf dem Seeboden ruhen zu lassen, ohne eine würdige Bestattung. Ich wusste, dass es mehrere Organisationen gab, sowohl polnische als auch deutsche, die an einer Gedenkfeier mitarbeiten wollten. Und da habe ich mich entschlossen, dies in die Hand zu nehmen." Die jetzige Gedenkfeier ist gleichzeitig der Auftakt eines weiteren Projekts: das Wrack des Flugzeuges vom Seeboden zu heben und die sterblichen Überreste der Passagiere zu bestatten.

Hans-Dietrich Werner (81), Augenzeuge des Absturzes des Flugbootes (Foto: Joanna Pieciukiewicz/DW)
Hans-Dietrich Werner (81), Augenzeuge des Absturzes des FlugbootesBild: DW

"Man braucht dieses gemeinsame Andenken"

Auf Einladung der Veranstalter kam auch die Familie eines Piloten des Flugbootes nach Kamp (heute Rogow). Sein heute 37-jähriger Enkel, der Berliner Arzt Niels Gauer, äußert sich zunächst distanziert: "Für mich ist das etwas abstrakt." Aber nachdem die Familie des Piloten am Seeufer einen Kranz niedergelegt hatte, ändert Niels Gauer seine Meinung. "Ich habe nicht erwartet, dass es mich so bewegen würde. Es ist so schön hier und so viele unschuldige Opfer starben. Man braucht doch dieses gemeinsame Andenken."

Seine Mutter ergänzt: "Ich kannte meinen Vater nicht. Ich war acht Monate alt, als er von Zuhause wegging. Ich stellte ihn mir immer in den Wolken vor. Es ist wichtig für mich, dass ich heute erfahren habe, wo er umgekommen ist."

Das Kreuz am Kamper See erinnert an 70 deutsche Kinder, Betreuer und Besatzung, die am Bord des Flugbootes des Typs Dornier Do 24, am 5.03.1945, während der Flucht vor der Roten Armee, in den Kamper See (heute Resko Przymorskie, bei Treptow/ Trzebiatow, Nord-West Polen) abgestürzt und umgekommen sind (Foto: Joanna Pieciukiewicz/DW)
Das Kreuz am Kamper See erinnert an 80 deutsche Kinder, Betreuer und Besatzung des abgestürtztes FlugbootesBild: DW

Und der Sohn des Piloten, Helmut Schütt erzählt tief bewegt. "Ich erinnere mich an meinen Vater. Ich habe ihn zum letzten Mal gesehen, als ich sechs war. Wir haben damals nur eine lakonische Mitteilung erhalten: er sei bei einer Flugkatastrophe in der Nähe von Kolberg umgekommen. Niemand überlebte. Jahrelang zündeten wir am fünften März zu Hause vor seinem Porträt eine Kerze an." Einen Moment später fügt er hinzu: "Ich bin den Polen dankbar, dass sie nun die Initiative ergriffen haben diese Gedenkfeier zu organisieren."

"Jeder muss sein eigenes Grab haben"

Ein junges polnisches Mädchen weint. "Mein Gott, wir wissen nicht mal die Namen dieser Kinder. Niemand suchte nach ihnen. Vielleicht soll man sie in Ruhe lassen und am Ufer nur eine Gedenktafel aufstellen?" Ihr Schulkamerad fällt ihr ins Wort: "Wenn ich umgekommen wäre, hätte ich es gerne, dass mich jemand findet und beerdigt. Jeder muss sein eigenes Grab haben."

Autorin: Joanna Pieciukiewicz
Redaktion: Bartosz Dudek/ Miriam Klaussner