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"Erosionsprozess der Kanzlerin"

28. März 2011

Dem Erdbeben in Japan folgte das politische Beben in Deutschland. Der spektakuläre Ausgang der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz beschäftigt auch die Kommentatoren der Tageszeitungen.

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Symbolbild Presseschau (Grafik: DW)
Bild: DW

DIE PRESSE (ÖSTERREICH)

"Merkels Beliebigkeit, ihr meist zögerliches Lavieren oder Über-den-Haufen-Werfen von Positionen wird immer mehr zum Problem. Der Erosionsprozess der Kanzlerin schreitet voran. In ihren knapp elf Jahren als Parteivorsitzende hat sie der CDU einen Modernisierungskurs verpasst, der gerade im strukturkonservativen Südwesten argwöhnisch verfolgt wurde. Inzwischen fehlt der Partei ein klares Profil, der ständig schwelende Konflikt zwischen Konservativen und Modernisierern wird nach der Wahl wieder umso heftiger ausbrechen. Die Prinzipienlosigkeit der Kanzlerin droht ihr über kurz oder lang auf den Kopf zu fallen. Merkel mag unmittelbar nicht gefährdet sein. (...) Aber es könnte nicht mehr allzu lange dauern, bis eine neue Generation nachdrängt, vom Typus eines Norbert Röttgen oder einer Ursula von der Leyen."

DE VOLKSKRANT (NIEDERLANDE)

"Die Wahlen im dem wichtigen Bundesland wurden zu einer Stellungnahme gegen die nationale Atompolitik. Die Regierung aus Christdemokraten und Liberalen - Verteidiger der Kernenergie - hat verloren. Die Grünen sind die großen Gewinner. Bundeskanzlerin Angela Merkel verliert einen der wichtigsten regionalen Stützpfeiler ihrer Regierung... Die Wende in Baden-Württemberg deutet auch auf tiefer liegende Veränderungen in Deutschland hin. Das Bundesland ist für seinen hohen Anteil eher konservativer Mittelstandsbürger bekannt. Und ausgerechnet hier ändert der deutsche Wähler nun sein traditionelles Abstimmungsverhalten."

LA REPUBBLICA (ITALIEN):

"Europa, das Angela Merkel als Anführerin ertragen hat, ohne sie jemals dazu ernannt zu haben, hat sie bereits durchfallen lassen. Nun hat die Bundeskanzlerin auch in Deutschland eine lautstarke und spektakuläre Niederlage erlitten. Die Botschaft, die Merkel aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz entgegenschallt, ist eindeutig: Man kann ein großes Land nicht regieren immer auf der Spur der letzten Umfrage, geleitet von Ängsten, ohne Mut zu Entscheidungen."

BERLINER ZEITUNG:

"Was für eine Wahl! Welch ein Debakel, welch eine Katastrophe für die Parteien, die nach eigenem Verständnis das bürgerliche Lager bilden! Und welch ein rauschhafter Erfolg für die Grünen! Nein, was gestern in Baden-Württemberg passiert ist, ist nicht irgendein demokratischer Wechsel. Das ist eine Revolution auf schwäbische Art, ganz friedlich und ordentlich in der Wahlkabine vollzogen, wie es sich gehört. Und dennoch ein Umsturz, der nicht nur den Südwesten verändern wird, sondern die gesamte Republik."

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG:

"Ja, es ist spektakulär. Das Wahlergebnis ist spektakulär, weil es auch die Folge eines fernen Bebens ist, ein Niederschlag der japanischen Atomkatastrophe, ein Fallout. Aber dieses Wahlergebnis ist nicht sensationell, deswegen nicht, weil Machtverschiebung und Machtwechsel zur demokratischen Normalität gehören. Es ist normal in einer Demokratie, dass Sieger nicht immer Sieger bleiben und Verlierer nicht immer Verlierer. Die Pointe der Demokratie ist die Herrschaft auf Zeit. Manchmal freilich dauert das Warten auf die Pointe lange; in Baden-Württemberg besonders lange. Dafür fällt die Pointe nun gepfeffert aus. Der Pfeffer ist grün."

HANDELSBLATT:

"Für Kanzlerin Angela Merkel und ihren Vize Guido Westerwelle geht es jetzt um das politische Überleben. Wer nach einem guten Jahr an der Regierung im Bund fast jede nachfolgende Landtagswahl verliert und selbst im konservativ-liberalen Stammland Baden-Württemberg kein Vertrauen mehr findet, der muss spätestens jetzt innehalten und alles auf den Prüfstand stellen: Das gilt sowohl für die Inhalte der bisherigen Politik als auch für das Führungspersonal, allen voran Kanzlerin und Vizekanzler."

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG:

"Der Sturz ist tief. Baden-Württemberg, von CDU und FDP gleichermaßen als "Stammland" in Anspruch genommen, hat die beiden traditionellen Regierungsparteien in die Opposition verwiesen. Das ist ein Schock, der mit der Abwahl der SPD in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2005 oder mit dem Verlust der absoluten Mehrheit für die CSU in Bayern bei der letzten Landtagswahl zu vergleichen ist. Die Ausläufer dieser Erschütterung werden auch die Berliner Koalition durcheinanderbringen - das gilt vor allem für die anhaltende Schwäche der FDP, die weder in Stuttgart noch im Bund überzeugendes Regierungspersonal vorzuzeigen hat(te)."

NÜRNBERGER ZEITUNG:

"Das Jahr ist noch jung, doch in die Geschichte der Union dürfte es als 'annus horribilis' eingehen. Schon wird über Neuwahlen spekuliert; indes hat das Beispiel Gerhard Schröders gezeigt, wie riskant ein solches Manöver ist. Also muss Merkel durchhalten, wenn sie das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben will; wieder moderieren, auch mit einem grünen Ministerpräsidenten. Und darauf hoffen, dass Grün-Rot wie Rot-Grün sich in der harten Realität entzaubern. Es wird spannend in Stuttgart, Mainz und in Berlin."

SÜDWEST-PRESSE:

Nun sieht es also tatsächlich so aus, als sollte ausgerechnet im Musterländle, im Land von Daimler und Porsche zum ersten Mal ein Grüner Ministerpräsident werden. Und es sieht tatsächlich so aus, als sollte ausgerechnet der konservative Stefan Mappus als der Regierungschef in die Annalen eingehen, der die Hochburg der Konservativen nach 58 Jahren CDU-Regierung an Grün-Rot verloren hat. Der 27. März 2011 taugt für die historische Dimension."

DIE WELT:

"Soll der grün-rote Erfolg nicht schnell verblühen, erfordert er hohe Regierungskunst. Es ist mehr als eine hübsche Pointe, dass das einzige Bundesland, das je einen FDP-Ministerpräsidenten hatte, nun das erste mit einem grünen Regierungschef wird - der seinen Erfolg freilich auch aktuellen Ereignissen und der Angst verdankt. Der Teppich, auf dem Kretschmann bleiben will, ist geflogen."

STUTTGARTER ZEITUNG:

"Kretschmann und die Grünen können jetzt beweisen, dass sie nicht die Dagegen-Partei sind, als die sie in den Auseinandersetzungen über große Infrastrukturprojekte oft verunglimpft wurden. Die politische Verantwortung, die sie nun gemäß dem Bonmot von SPD-Altkanzler Gerhard Schröder in einem Bundesland erstmals als Koch und nicht als Kellner übernehmen, wird sie verändern."

Redaktion: Martin Muno / Marion Linnenbrink