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"Erschöpft und desorientiert"

Stephanie Höppner17. Februar 2014

Über zwei Monate halten die Proteste in der Ukraine schon an: Im Gespräch mit der DW versucht Journalist Juri Rescheto, der für eine Reportage in Kiew war, dem zwiespältigen Lebensgefühl in der Hauptstadt nachzuspüren.

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Protest in Kiew (Foto: AFP PHOTO / MARTIN BUREAU)
Bild: Martin Bureau/AFP/Getty Images

DW: Sie haben für ihre DW-Reportage mit vielen Menschen in Kiew gesprochen. Mit welchen Eindrücken fahren Sie denn wieder nach Hause?

Juri Rescheto: Es ist sehr widersprüchlich: Auf der einen Seite habe ich Kiew voller Revolutionsromantik erlebt. Es ist eine Stadt, in der es scheinbar nur ein einziges Thema und eine einzige Forderung gibt: Präsident Janukowitsch muss weg. Dazu kommt das große Rätseln, wie es jetzt auf dem Maidan und mit dem Land im Allgemeinen weiter geht. Von der Opposition ist man enttäuscht. Andererseits nimmt man aber auch, sobald man den Maidan verlässt, ganz andere Bilder wahr. Man sieht eine wunderschöne junge pulsierende Stadt, in der die Menschen arbeiten, im Restaurant sitzen oder am Valentinstag ins Kino gehen - als wäre nichts gewesen, als gäbe es keine Revolution und keine Barrikaden.

Die Stadt ist also deutlich weniger politisiert, als man das in den Medien wahrnimmt?

Ja, das liegt natürlich daran, dass die Kameras der Nachrichtenagenturen vor allem auf den Maidan gerichtet sind. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Leben der Ukrainer sich auch nur hier abspielt. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Kiewer müssen auch zusehen, dass sie - trotz der Revolution - ihren Alltag bewältigen. Und das tun sie auch mit viel Humor und Witz.

Welche Stimmung herrscht unter den Protestlern?

Ich habe mit den Menschen auf dem Maidan gesprochen, die dort seit zweieinhalb Monaten kampieren und teilweise völlig desorientiert wirken. Die Entwicklungen scheinen zu stagnieren. Ich habe müde, erschöpfte Gesichter gesehen, wenn die Masken mal abgenommen wurden. Zur Erklärung: Viele tragen Masken, damit sie vom Geheimdienst nicht erkannt werden. Denn immerhin drohen bis zu 15 Jahre Haft für ihre Aktivität. Andere, die sich nicht verhüllt haben, sagten: "Wie wollen wir denn jetzt zurück? Wir wurden registriert und gescannt, man kennt unsere Gesichter. Wir haben keine Wahl, wir müssen hier bis zum Schluss stehen."

Weitermachen, auch wenn die Zukunft ungewiss ist. Wie sehen Skeptiker diese Demonstrationen?

Manche Kiewer sprechen der Revolution ihren Sinn ab – weil sie zum Beispiel dank ihres guten Einkommens ein schönes Leben führen und keine Notwendigkeit für eine Reform erkennen. Oder weil sie schon andere Revolutionen – etwa in den 90er Jahren - in der Ukraine erlebt haben und befürchten, dass ihr Land nie den Anschluss an Europa schaffen wird. Die Führungselite wird von ihnen als insgesamt korrupt erlebt, unabhängig davon, wer gerade an der Spitze steht.

Veranstaltungsreihe "Medien International", Gesprächsrunde zur Pressefreiheit in der Ukraine mit Juri Rescheto. (Foto: DW/Wojcik)
DW-Reporter Juri Rescheto (r.) bei einer Podiumsdiskussion zur Pressefreiheit in der UkraineBild: DW/Wojcik

Oppositionsführer Vitali Klitschko ist im Westen, vor allem in Deutschland, sehr populär. Wie wird er in der Ukraine wahrgenommen?

Klitschkos Partei hat keinen Einfluss im Parlament, seine Partei ist klein. Anders als im Ausland ist er weder beliebt noch hat er Gewicht und Format. Er ist zwar einer der Oppositions-Köpfe, doch die machen sich inzwischen rar in der Öffentlichkeit. Sie sind weder auf dem Maidan noch in den Medien präsent. Außerdem gibt es innerhalb der Opposition völlig widersprüchliche Richtungen. Die Menschen wissen nicht, wem sie folgen sollen. Doch die Ukrainer wollen einen Anführer haben. Während der 70-jährigen sowjetischen Indoktrinierung des Landes hat das Demokratieverständnis der Menschen stark gelitten.

Seine Kritiker werfen Klitschko vor, zögerlich und konzeptlos zu sein?

Die ganze Revolution ist momentan konzeptlos. Das ist nicht nur Klitschkos Problem, das ist das Problem des ganzen Aufstands. Die Menschen sind erschöpft, wissen nicht wohin, können aber auch nicht zurück. Sie wollen Demokratie und Freiheit, aber wissen nicht, was der nächste Schritt sein könnte. Und das kann ihnen Klitschko auch nicht sagen, auch wenn er im entscheidenden Moment auf dem Maidan war. Das zusätzliche Problem ist, dass die Oppositionsköpfe nun untergetaucht sind.

Auch Janukowitsch ist in Deckung gegangen. Im Moment weiß man nicht: Ist es die Stille vor dem Sturm? Das wäre das Worst Case Szenario, das mit Blutvergießen und gewaltsamer Räumung des Maidan enden könnte. Oder gibt es doch eine Verhandlung von der wir nichts wissen? Die Menschen haben die Ungewissheit satt.

Ich glaube, dass Janukowitsch auf Zeit spielt und damit rechnet, dass die Menschen auf dem Maidan irgendwann völlig erschöpft sind und nach Hause wollen. Er wird es aussitzen. Dazu nutzt er die Politik der kleinen Zugeständnisse, wie etwa die Freilassung der Inhaftierten. Aber er wird sich mit allen Mitteln an die Macht klammern.

Die Oppositionsführer Klitschko und Jazenjuk werden sich in heute mit Bundeskanzlerin Merkel treffen. Wieviel Einmischung ist denn vom Ausland erwünscht?

Ich habe mit vielen Menschen auf dem Maidan gesprochen: Intellektuelle, einfache Leute, Frauen in Nerzmänteln. Alle lehnen eine starke Einmischung der USA und der EU ab. Sie wollen ihr Land selbst nach vorne bringen. Ein ukrainischer Rabbiner sagte: "Wir wollen nicht nach Europa, wir sind in Europa." Sprich: Es soll europäisch in der Ukraine werden, aber Europa soll nicht sagen, wohin die Ukraine steuern soll.

Juri Rescheto ist Journalist und war für eine Reportage der Deutschen Welle in der Ukraine unterwegs. Dabei begleitete er die ehemalige Spitzen-Politikerin der Piratenpartei, Marina Weisband, in ihre alte Heimat - und sprach mit zahlreichen Menschen auf dem Maidan und der restlichen Stadt.