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Patient ist immun gegen Rizin

Brigitte Osterath
12. Januar 2018

Rizin ist eines der stärksten Gifte der Welt. Aber nicht für diesen 20-jährigen Mann im Uniklinikum Münster: Ein erblicher Stoffwechseldefekt schützt ihn vor der tödlichen Substanz. Forscher haben entschlüsselt, wieso.

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Thorsten Marquardt mit seinem Patienten "Jakob"
Thorsten Marquardt vom Uniklinikum Münster mit seinem Patienten, "Jakob" genanntBild: UKM/Graffe

Es braucht nur wenige Milligramm Rizin, um einen Menschen zu töten. Gespritzt, eingeatmet oder verschluckt, hindert es den Körper daran, lebenswichtige Eiweißstoffe herzustellen. Als Folge versagen das Zentralnervensystem, die Nieren, die Leber oder andere Organe. Der Tod durch Herz-Kreislauf-Schock oder Organversagen tritt innerhalb weniger Tage ein.

Bisher existiert kein offizielles Gegengift. Und was Rizin in Bezug auf bioterroristische Anschläge noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass es  relativ leicht zugänglich ist: Es lässt sich aus den Samen des Wunderbaums isolieren. Rizin ist als Kriegswaffe gelistet. 

Georgi Markov
Georgi Markov wurde mit Rizin ermordetBild: picture-alliance/dpa

Ein bekanntes Rizin-Opfer ist der bulgarische Schriftsteller und Dissident Georgi Markov. Ein Agent des bulgarischen kommunistischen Geheimdienstes hatte ihn 1978 auf der Waterloo Bridge in London vergiftet. Mit der Spitze eines umgebauten Regenschirms schoss er ihm eine Rizinkapsel ins Bein. 

Es gibt nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die einen solchen Anschlag überlebt hätten. Einer von ihnen ist Patient am Universitätsklinikum in Münster.

Ein ganz besonderer Patient

Das Universitätsklinikum Münster nennt ihn Jakob, auch wenn er anders heißt. Er ist 20 Jahre alt und wird seit seiner Geburt im Universitätsklinikum behandelt. Er kam damals als Frühchen zur Welt.

"Mit ihm war immer was", sagte seine Mutter der Deutschen Presse-Agentur dpa. Jakob musste mehrere Operationen über sich ergehen lassen und hatte zudem häufig hohes Fieber. "Wir konnten uns lange nicht erklären, warum er immer wieder das Fieber hat", erinnerte sich Jakobs Arzt Thorsten Marquardt, der am Uniklinikum Münster den Bereich Angeborene Stoffwechselerkrankungen leitet.

Schließlich kamen die Ärzte darauf, was Jakob fehlte: Er hat einen Gen-Defekt, der ihn daran hindert, den Zucker Fucose herzustellen. "Es gibt nur zwei weitere Menschen auf der Welt, von denen bekannt ist, dass sie den gleichen Defekt haben", sagte Marquardt. Sie leben beide in Israel. Das Fehlen des Zuckers Fucose macht ihre Zellen immun gegen Rizin – so wie auch Jakobs Zellen. 

Rizinusstaude Rizinusöl und Samen
Aus den Samen des Wunderbaums lässt sich Rizinusöl gewinnen – aber auch das Gift RizinBild: picture-alliance/blickwinkel/McPhoto

Immun durch Zuckermangel 

Einmal im Inneren des Körpers angekommen, bindet Rizin an Zuckermoleküle, die überall auf den Oberflächen der Körperzellen angebracht sind. Solange das Gift außerhalb der Zellen verbleibt, ist alles in Ordnung.

"Ein Problem wird es, wenn Rizin an Rezeptoren bindet, also körpereigene Moleküle, die ständig zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Zelle hin- und herhüpfen", sagt Johannes Stadlmann, Forscher am Institut für molekulare Biotechnologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, der DW. "Sie bringen Rizin in die Zelle."

Hat das Gift auf diese Art Zugang zur Maschinerie der Zellen bekommen, beginnt es, die Synthese lebenswichtiger Bausteine zu blockieren. Wie Stadlmann und seine Kollegen entdeckten, verändert der Zucker Fucose das Aussehen des Rezeptors derart, dass Rizin besonders gut an ihn binden kann. Je mehr Fucose da ist, desto giftiger wird also Rizin.

Ein- und ausschaltbar

Die Wiener Forscher erfuhren von Jakobs Existenz und baten Thorsten Marquardt in Münster, ihnen ein paar Hautproben des Patienten zu schicken. Und tatsächlich: Es passte alles zusammen. "Seine Zellen enthalten keine Fucose", erzählt Stadlmann, "daher ist er immun gegen Rizin."

Rizinusstaude
Der Wunderbaum schützt mit Rizin seine Samen vor FressfeindenBild: picture-alliance/blickwinkel/C. Huetter

Der Stoffwechseldefekt hat allerdings seinen Tribut gefordert: Als die Ärzte endlich heraus hatten, was mit Jakob nicht stimmte, war seine Entwicklung bereits irreparabel beeinträchtigt; er kann nur schlecht laufen und sprechen. 

Inzwischen behandeln die Ärzte ihn mit Fucose. Sie führen seinem Körper den Zucker, den er so dringend braucht, künstlich zu. Seinen Ärzten zufolge hat die Behandlung seine Lebensqualität stark verbessert. Die Therapie hat allerdings einen Nebeneffekt, wie Stadlmann betont: Solange Jakob das Zuckersupplement erhält, ist Rizin wieder giftig für ihn. 

Zeitweise immun

In Tierversuchen mit Mäusen zeigten Stadlmann und sein Team, dass sie eine Immunität auch von außen herbeiführen können. Sie spritzten den Mäusen einen Hemmstoff gegen Fucose; daraufhin wurden die Tiere zeitweise immun gegen Rizin.

Stadlmann betont, dass es nicht leicht war, die behördliche Genehmigung für diese Art von Tierversuch zu bekommen. "Wir durften den Tieren auch nur die Minimaldosis Rizin füttern." Es durfte nur gerade so viel sein, dass man eine Wirkung sah, ohne die Tiere jedoch zu töten.

Labormaus
Mäuse lassen sich künstlich immun gegen Rizin machenBild: picture-alliance/dpa/Marks

Die Ergebnisse legen nahe, dass sich Tiere und vermutlich auch Menschen mit einer einfachen Spritze gegen das Gift immun machen lassen. "Das wirkt allerdings nur prophylaktisch", fügt Stadlmann hinzu. Wenn jemand das Gift bereits aufgenommen hat, ist es zu spät. Die Forscher hoffen aber, dass ihre Erkenntnisse auch dabei helfen, endlich ein geeignetes Gegengift zu entwickeln.

Vom Labor in die Wirklichkeit

Stadlmann hat Jakob niemals persönlich getroffen – aber er erinnert sich noch an den Tag, als er das erste Mal ein Foto von ihm sah, das Marquardt ihm geschickt hatte. "Das war unheimlich berührend", erzählt er.

Den Patienten zu sehen, der mit einer Krankheit leben musste, die Stadlmann im Labor miterforscht hatte, war ein besonderer Moment. "Und es war schön zu sehen, dass alles mit Zuckermolekülen zusammenhängt und dass dieses Wissen dem Patienten auch tatsächlich helfen kann."