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Es geht nicht nur um Arbeitsplätze

2. Oktober 2003

- Hintergründe der Bergarbeiterproteste in Polen

https://p.dw.com/p/485o

Warschau, 27.9.2003, POLITYKA, poln.

Die gereizte Stimmung in Oberschlesien hat auch nach dem berühmt-berüchtigten und blutigen Sturm der Bergleute auf die Hauptstadt nicht nachgelassen. "Es wird keine Zustimmung für die Stilllegung der vier Bergwerke geben", kündigt Leszek Czerkawski, der Vizevorsitzende der Gewerkschaft der Bergleute und Veranstalter der Prostaktion in Warschau an. Er droht mit einer Verschärfung der Proteste und sogar mit einem Generalstreik. (...)

Auch die Gewerkschaft Solidarnosc ermuntert die Bergleute, sich an einer weiteren Protestaktion in der Hauptstadt oder an einem Generalstreik zu beteiligen, weil sie dem Vizeminister Hausner nicht verzeihen kann, dass er die Gehälter der Gewerkschaftsaktivisten unter die Lupe genommen hat. (...)

Die Aktivisten denken, dass Reformen, die von vielen Seiten gleichzeitig angegriffen werden, keine Chancen auf Erfolg haben. Man muss nur konsequent angreifen.

Die Arbeitslosenquote in Oberschlesien, wo über fünf Millionen Menschen leben, schneidet - statistisch gesehen - nicht so schlecht im Vergleich zum Rest des Landes ab. Hier konzentriert sie sich aber auf einem verhältnismäßig kleinen Gebiet: Es kommt sogar vor, dass alle Leute, die in einem Wohnblock leben, arbeitslos sind. Dasselbe gilt für ganze Straßen und Wohnviertel.

"Das ist eine Bombe, die immer lauter tickt", warnt Professor Marek Szczepanski, ein Soziologe, der sich mit der Untersuchung der Armut in Oberschlesien und den Schicksalen der Bergleute beschäftigt, die nicht mehr im Bergbau arbeiten. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind erschreckend. Von den 30 000 Bergleuten, die sich nach den letzten Reformen im Bergbau dazu entschlossen hatten, die einmalige Abfindung anzunehmen und freiwillig aus dem Berufsleben auszuscheiden, haben fast 8 000 bei den Sozialämtern in Oberschlesien Anträge auf Unterstützung gestellt. Damals wurde behauptet, dass aus dem Bergbau die besser ausgebildeten und die dynamischsten Bergleute ausscheiden.

80 Prozent der Bergleute, die noch arbeiten, verfügen höchstens über einen Berufsschulabschluss. 16 von 100 Bergleuten haben lediglich einen Grundschulabschluss. "Wenn ich keine Arbeit mehr im Bergwerk habe, was soll ich dann machen, auf die Müllkippe gehen? Ich werde doch keinen neuen Beruf erlernen können", sagt ein Bergmann, der in einem der vier Bergwerke arbeitet, die geschlossen werden sollen.

Die Aktivisten der Gewerkschaften, von denen es inzwischen über 30 in den Bergwerken gibt, verstärken noch diese fatalistische Lebenseinstellung der Kohlekumpel. (...)

Die Angst der Bergleute um ihren Arbeitsplatz ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Tatsache, dass man mit Hilfe der Bergleute versucht, verschiedene politische und gewerkschaftliche Interessen durchzusetzen und damit alle Reformen zu blockieren, ist die andere Seite. (...)

In jedem Bergwerk gibt es zwischen acht und sechzehn Gewerkschaften, weil in jedem Bergwerk die Gewerkschaften "Solidarnosc", "ZZG", "Kadra" und "Sierpien 80" (das sind nur die größten Gewerkschaften) vertreten sein müssen. Bei der Gesellschaft für Kohleförderung, zu der 24 Bergwerke gehören, gibt es insgesamt 220 Gewerkschaften, und jede von ihnen ist eine unabhängige und selbstbestimmende Gewerkschaft! (...).

Jeder Gewerkschaftsaktivist, der aufgrund der Tätigkeit für die Gewerkschaft freigestellt wurde, bekommt laut Gesetz Geld vom Arbeitgeber. Die Gewerkschafter nehmen also Geld aus den Kassen der Bergwerke, die wiederum vom Staat subventioniert werden. Auch die Büros der Gewerkschaften werden von dem Geld der Bergwerke unterhalten. (...)

Wenn eine Gewerkschaft über 150 Mitglieder zählt, wird eine Person als ihr Vertreter freigestellt. Wenn aber zu einer Gewerkschaft mehr als 1 000 Personen gehören, gibt es vier Stellen für die Gewerkschaft. Die Aktivisten bekommen ein monatliches Entgelt, zu dem sowohl der Durchschnittslohn der letzten drei Monate vor der Arbeitsaufnahme bei der Gewerkschaft gehört als auch alle Zuzahlungen, die den berufstätigen Bergleuten zustehen. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob ein Bergwerk rote oder schwarze Zahlen schreibt.

Bei der Gesellschaft für Kohleförderung wurde errechnet, dass an die insgesamt 192 Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit bei den Gewerkschaften freigestellt wurden, elf Millionen Zloty jährlich ausbezahlt werden. (...)

Noch im Jahre 1989 wurden bei uns über 177 Millionen Tonnen Kohle gefördert und im Bergbau waren insgesamt 415 000 Personen beschäftigt. 145 Millionen Tonnen Kohle wurden auf dem Binnenmarkt verbraucht. In diesem Jahr werden lediglich 100 000 Millionen Tonnen gefördert und nur 70 Millionen Tonnen auf dem Binnenmarkt verbraucht. Im Bergbau sind zur Zeit 130 000 Bergleute beschäftigt.

Noch in den fünfziger Jahren wurden 97 Prozent der Energie mit Steinkohle erzeugt. In den neunziger Jahren sank die Zahl auf 63 Prozent und in diesem Jahr auf 44 Prozent.

Bei der Energieerzeugung spielen heute Braunkohle, Erdgas und Erdöl eine immer wichtigere Rolle. Das ist eine Tatsache, die sowohl die Bergleute, die Politiker als auch die Gewerkschaftsaktivisten akzeptieren müssen. (...) (Sta)